Hamburg. Mit einer Open-Air-Gala eröffnet der Ballettchef seine 50. Hamburger Spielzeit. Mehr als 3000 Menschen kamen – und wurden verzaubert.
Wie gebannt kann eine Menge sein. Und wie still verzaubert können Menschen staunen. Bis dann der Jubel losbricht. Für die Kultur. Für den Tanz. Für ein Lebenswerk. Es ist eine sehr besondere kollektive und feinsinnige Energie zu spüren, als das Hamburg Ballett auf dem Rathausmarkt ihren Chefchoreografen John Neumeier feiert – mit der ersten Open-Air-Gala in der Geschichte des Hauses.
Der Anlass könnte größer kaum sein: Der Ballettchef eröffnet seine 50. Spielzeit in der Hansestadt, die zugleich seine letzte sein soll. Die 3000 Sitzplätze für sein „Tanzfeuerwerk“ sind weit vor Beginn belegt, sodass noch Hunderte die Absperrungen säumen.
Open-Air-Gala: Auch Tschentscher ist vor Ort
Was für eine kluge Idee, den Kulturhunger in der Stadt mit solch einem Gratis-Event anzufachen. Die Spielstätten, die durch die Pandemie mit der Zurückhaltung des Publikums zu kämpfen haben, können derlei Euphorisierung bestens gebrauchen. Vierjährige Fans mit Rohkostbox von Mama blicken da ebenso gebannt auf Bühne und Leinwände wie betagte Paare, die vorsorglich schon einmal die warmen Mäntel aktiviert haben an diesem dann aber doch recht mild gesonnenen Septemberabend. Eine Clique an Freundinnen reicht Pflaumenkuchen herum und schenkt Rosé aus, während eine Theaterklasse des Ballettzentrums strahlend Selfies macht. Die Stimmung ist überaus freudvoll.
Wie sehr Hamburg seine Kultur will und wertschätzt, zeigt auch die Präsenz des Ersten Bürgermeisters. „John Neumeier hat von Hamburg aus Weltgeschichte geschrieben“, erklärt Peter Tschentscher und lässt kurz Stationen des Ehrenbürgers Revue passieren. 200 Stücke, aufgeführt in mehr als 100 Städten.
Neumeier moderiert den Abend selbst
Zehn Höhepunkte aus diesem einzigartigen Schaffen sind nun also als Geschenk unter freiem Himmel zu erleben. Eine choreografierte Biografie, die mit den Worten beginnt: „Meine Welt ist Tanz“. Neumeier moderiert den Abend selbst. Mal im Rampenlicht, mal aus dem Off. Er reflektiert seine Anfänge, seine Inspirationen, Erfolge und auch Verluste. Wie eine Märchen-Doppelstunde. Ein Märchen allerdings, das real ist.
Direkt zum Auftakt mit den „Bernstein Dances“ ist alles da: Leichtigkeit, Stärke und Dynamik, das Präzise und das Clowneske. Wie die Gruppe eins wird in der Choreografie und doch jede einzelne Persönlichkeit ihre Akzente setzt. Und dann trägt die Compagnie ihren Meister flugs auf Händen und entlässt ihn im geschmeidigen Überschlag auf die Bretter. Ganz in weiß mit schwarzer Krawatte steht er da, begleitet von Christopher Evans in gleicher Kleidung.
Tänzer versprühen nostalgischen Glanz
Der Erste Solist agiert wundervoll empathisch als Neumeiers junges Alter Ego. Er bewundert die Tänze aus den alten Technicolor-Filmen, die Neumeier als Kind in den USA faszinierten. Und er schaut sich die lässig-eleganten Bewegungen zu Gershwins „I Got Rhythm“ ab. Die Tänzerinnen und Tänzer im Frack versprühen nostalgischen Glanz, der abgelöst wird von Neumeiers Verneigung vor dem klassischen Ballett: Das zweite Bild aus seinem „Nussknacker“ entfaltet ihre Magie durch Tradition. Weiß schwingender Tüll. Das Himmelwärtsstrebende und das Strahlende. Ein Moment, der größer ist als die Tanzenden selbst. Wird doch die Ballett-Geschichte mit jeder Interpretation und jeder Aufführung fortgeschrieben.
Wie stark Aura und Arbeit des Choreografen sind, veranschaulicht ein Ausschnitt aus dem „Tod in Venedig“ eindrücklich: Christopher Evans fließt da durch das Pas de deux, er wirkt in die Abläufe hinein, lädt sie mit Spannung auf. Eine dritte Kraft, auf poetische Weise sichtbar gemacht.
Open-Air-Gala: Neumeier führt Publikum durch Emotionen
Und während der Wind weich über den Platz weht und die Nacht hereinbricht, führt Neumeier sein Publikum nicht nur durch sein Werk, sondern vor allem durch die Emotionen. Ein Ringen um Nähe in seinem Pandemie-Stück „Ghost Light“. Wuchtiges Frohlocken im „Weihnachtsoratorium“. Erschütternd die getanzten Traumata aus „Nijinsky“. Das zarte Sehnen in der „Kameliendame“. Rührend die Hommage an den 2007 gestorbenen Freund und Kollegen Maurice Béjart.
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Ein Abend, an dem einem das Herz überläuft. Und der mit einem Ausblick auf die Jubiläumssaison endet: Am 18. September beginnt die Spielzeit mit der Wiederaufnahme des Balletts zu Mahlers Dritter Sinfonie. Zu sehen ist eine Anmut, die in die Tiefe geht. Jede Regung zählt. Und zum Finale läuft John Neumeier noch einmal langsam und achtsam durch die Tanzenden hindurch. Mit dankbarem Blick. Standing Ovations und lauter Jubel. Minutenlang. Ein Ereignis, das lange nachhallt