Hamburg. „Die Unsichtbaren“: Die Uraufführung der John-Neumeier-Choreographie im Ernst Deutsch Theater war hoch emotional und politisch.

Ein leerer Ballettsaal. Unverkennbar dem „Folkine-Studio“ im Ballettzentrum Hamburg John Neumeier mit dem Wandgemälde „Orpheus mit den Tieren“ von Anita Rée (1885-1933) nachempfunden. Ihr Kunst wurde unsichtbar – so wie auch die vieler Tanzschaffender, die in den 1920er-Jahren in Deutschland hoffnungsvoll zu neuen Formen der Bewegung aufbrachen und dann vom NS-Regime ausgegrenzt, verfolgt und in die Emigration gezwungen wurden.

Eine von ihnen verkörpert die ausdrucksstarke Ida-Sofia Stempelmann. Mit der Sporttasche über der Schulter findet sie zu mal tastenden, mal abrupten Bewegungen, die Arme wie eine Schere zusammenschlagend. Verzweiflung im Blick, bleibt ihr nur die atemlose Flucht. Hamburg-Ballett-Chef John Neumeier entreißt in seiner Uraufführung „Die Unsichtbaren“ anlässlich der Eröffnung der 47. Hamburger Ballett-Tage, all jene Tanzschaffende, die den Nazis schon bald ein Dorn im Auge waren, dem Vergessen.

Ballett-Tage Hamburg: Neumeier wagt ungewohntes Experiment

Es ist ein für ihn ungewohntes Experiment und das nicht nur, weil er diesmal das Bundesjugendballett im Ernst Deutsch Theater präsentiert. Neumeier setzt sich tänzerisch einmal nicht mit dem Ballett-Kanon sondern mit dem Erbe der Pioniere des modernen Tanzes auseinander, mit Rudolf von Laban, Mary Wigman, Gret Palucca oder Alexander von Swaine. Der sogar mit Nijinsky verglichene Swaine etwa landete als homosexueller Tänzer im Gefängnis. Giuseppe Conte, der erst in der kommenden Saison zum Bundesjugendballett stoßen wird, tanzt ein hinreißendes Swaine-Solo, expressiv und fluide in den Bewegungen. Man darf sich schon jetzt auf ihn als neues Ensemblemitglied freuen.

In „Die Unsichtbaren“ werden die Choreografien nicht direkt zitiert, Neumeier präsentiert vielmehr aus Fotos oder Filmausschnitten Inspiriertes und arrangiert die Bewegungen zu einer Collage mit gesprochenen Texten aus Briefen oder Vorträgen, was trotz des formalen Spagats tief berührt. Auf diese Weise ist ein Abend der Erinnerung und des Gedenkens entstanden. Die von Maximilian von der Mühlen, Louisa Stroux und vor allem Isabella Vértes-Schütter in der Rolle der Mary Wigman gesprochenen Texte wirken hier nicht wie Fremdkörper. Sie umschlingen und verstärken die Bewegungen der jungen Tänzerinnen und Tänzer des Bundesjugendballetts – und umgekehrt.

Der ganze Abend ist ausgesprochen politisch

Düstere Szenen der Isolation zu Live-Musik von Strawinsky oder Strauss unter der musikalischen Leitung von Jay Gummert wechseln mit etwas Leichtigkeit, wenn etwa am Ende Freddie Mercury „Bohemian Rhapsody“ singt und der Ausdruckstanz Spuren bis in die Pop-Kultur hinterlässt. Die Wigman-Schülerin Gret Palucca, die anlässlich der Olympischen Spiele 1936 in Deutschland einen Solotanz schuf, wird mit dem Walzer „Straussiana“ des Emigranten Erich Wolfgang Korngold gewürdigt. Erneut glänzt hier mit enormer Sprungstärke und Hingabe Ida-Sofia Stempelmann.

Sie ist erst vor zwei Jahren vom Bundesjugendballett zum Hamburg Ballett gewechselt. Das gesamte Ensemble überzeugt, auch die filigrane Justine Cramer oder der geradlinige Lennard Giesenberg, der häufig die Rolle des Rudolf von Laban übernimmt. Der ganze Abend ist ausgesprochen politisch, zwischendurch läuft auch mal der drahtige Ballettmeister Raymond Hilbert – hier verantwortlich für zusätzliche Choreografien – mit seiner fesselnden Präsenz durchs Bild. Uniformierte Nazi-Aufmärsche und menschenverachtender Bürokraten-Sprech sind, wie die offenbarten Schicksale, schwer auszuhalten.

Manchmal schwingt ein Unbehagen mit

Es gibt aber auch Momente der Hoffnung, etwa wenn das Ensemble zu Bob Dylans „With God On Our Side“ zu einem bewegenden Gruppentableau mit kleinen Soli findet.

Andererseits schwingt in den Szenen oft ein Unbehagen mit. Ob sie nichts gewusst habe, wird Mary Wigman einmal von ihrer jungen Schülerschar gefragt. Im zweiten Teil sieht sie sich einem regelrechten Tribunal gegenüber. Auch wenn ihre Schule von den Nazis geschlossen wurde und sie darum kämpfte, jüdische Tänzerinnen aufnehmen zu dürfen, galt sie einigen Historikern als Kollaborateurin.

Ballett-Tage Hamburg: Neumeier schafft ein Mahnmal

Am Ende ist dieser Abend dank der enorm talentierten jungen Tänzerinnen und Tänzer, vor allem aber inhaltlich ein Gewinn. Nicht nur, weil er, so wie auch die von Peter Schmidt gestaltete Ausstellung im Foyer, „Die Unsichtbaren“ sichtbar macht, sondern, weil er als getanzte Erinnerungskultur ein bewegtes Mahnmal darstellt und zeigt, in welche Finsternis der Totalitarismus immer und überall führt.

„Die Unsichtbaren“ bis 18.7., Ernst Deutsch Theater, Karten unter ernst-deutsch-theater.de