Hamburg. Viele sehen die Choreografin als Gender-Künstlerin. “Navy Blue“ wird nun erstmals in der Hansestadt zu sehen sein.
Eine starke, bezwingende Körperlichkeit: Das strahlen die Choreografien von Oona Doherty aus. Wenn sie bei „Hope Hunt & The Ascension Into Lazarus“, das vor zwei Jahren beim Sommerfestival gastierte, ihre Tänzerin mit Mackerposen arbeiten lässt, wenn sie lustvoll Gesten plumper Gewalt und misogyner Männlichkeit zerlegt, hat das Wumms und Wirkung. „Das ist einfach in mir. Es ist die Art, wie ich mich bewege“, sagt Oona Doherty.
Die Choreografie war ursprünglich als Solo für ihren Freund Neil Brown gedacht, ein Stück über die 1990er-Jahre mit viel Nostalgie. „Er war damals in Glasgow und ich in Belfast. Wir thematisierten das Draufgängertum“, erzählt Oona Doherty. Dann bekam der Freund ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte, und Doherty musste für ihn einspringen. Seitdem gilt sie vielen als Gender-Künstlerin.
Kampnagel: „Navy Blue“ ist Dohertys größte Choreografie
Oona Doherty spricht schnell mit einem sehr geerdeten irischen Akzent. Sie erlebt gerade atemlose Zeiten. Eben noch hat sie beim Festival d’Avignon ihr Stück „Lady Magma“ in einem magisch anmutenden Klosterinnenhof aufgeführt. Ein feministisches, ausschließlich von Frauen getanztes Ritual mit einer ganz anderen, viel weicheren Bewegungssprache. Und nun probt sie auf Kampnagel ihre bislang größte Produktion „Navy Blue“, deren Weltpremiere am 10. August das diesjährige Internationale Sommerfestival eröffnen wird. Zwölf Tänzerinnen und Tänzer aus ganz Europa sind an Bord.
Oona Dohertys Aufstieg verwundert nicht, sie wird seit dem Erfolg von „Hope Hunt“ als Riesentalent der Tanzwelt gehandelt. Spätestens seit sie den Silbernen Löwen bei der Tanzbiennale 2021 erhielt, gilt sie als große Hoffnung.
Oona Doherty litt unter Depression
Manchmal kann das Leben sich auch zu schnell drehen: Vor zwei Jahren wurde Doherty als Gast ans Ballett National de Marseille eingeladen und bekam Probleme. Sie fühlte sich technisch nicht stark genug, um neben den versierten Ballett-Tänzerinnen und -Tänzern zu bestehen. „Es gibt da eine Hierarchie von Macht und Geld. Das hat Ängste in mir ausgelöst“, sagt Doherty.
Zu dem Zeitpunkt war sie bereits drei Jahre lang unablässig auf Tour, flog durch die Welt und lebte in Hotelzimmern. Einerseits dankbar für all die Chancen, die sich ihr boten. Andererseits spürte sie plötzlich Leere und große Einsamkeit – sie war mitten in einer Depression.
„Navy Blue“ mit Musik von Jamie XX
All diese Gefühle und Erfahrungen – und ihre Bewältigung – fließen nun ein in die neue Arbeit. „Es war heilsam, es mit den Tänzerinnen und Tänzern zu teilen“, sagt Doherty. Weitermachen, leben, lieben, das sei ihr Rezept zur Gesundung gewesen. Das Stück auf Kampnagel wird angesichts des Themas eher wenig Leichtigkeit zeigen. Es geht auch darum, Figuren des klassischen Balletts in ihrer Strenge zu entlarven. Für die Musik hat sie einen bemerkenswerten Partner gefunden: Jamie XX, Erfolgs-DJ und Mitglied der Indie-Band The XX.
Eines Tages besuchte er eine ihrer Tanzshows und fragte eine Videoarbeit an. Im Gegenzug dafür liefert er nun die Musik für „Navy Blue “ – weitgehend düstere Klangwelten. Die Kostüme der Tänzerinnen und Tänzer sind von Arbeitskleidung inspiriert. Für Oona Doherty steckt sehr viel in diesem Blau: Armut, Reichtum, Adel, die Uniformen der französischen Armee, aber auch Milchkaffee trinkende Großstadt-Hipster.
Doherty verarbeitet Kriegstraumata und Beziehungen
Von ihrer bewegten Vergangenheit in Belfast erzählt ein früheres Stück aus ihrem beeindruckenden Oeuvre, „Hard to Be Soft – A Belfast Prayer“ (2017), in dem es um Kriegstraumata und zerbrechende Beziehungen geht. „Ich hatte das Glück, mit zehn Jahren aus London nach Belfast zu ziehen und dort in eine Schule mit einer Tanz-Klasse zu kommen. Ich war Legasthenikerin und etwas langsam, auf jeden Fall nicht sehr akademisch. Wenn einem dann jemand sagt, es gebe einen Bereich, in dem man richtig gut sei, dann ist das lebensverändernd.“
Doherty arbeitete hart und fand ihre Berufung. Bis heute nutzt sie den Tanz, um an Schmerzpunkte zu gehen – ihre eigenen und die der Gesellschaft. „Hard to Be Soft“ handelt von einer verhärteten Generation, die es nicht gewohnt ist, Schwäche zu zeigen, ein Gegenüber auch mal zu umarmen. Was vor allem Männer betrifft.
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„Da gibt es eine Wand im Körper, und ich habe auf diese Wand geblickt und mich gefragt, was würde bei einer Umarmung aufbrechen und neu geboren“, erinnert sich Doherty. Ihre Tanzschulung in jungen Jahren half ihr später bei den nächsten Stationen: der London School of Contemporary Dance, der University of Ulster und am LABAN London. Nach der Ausbildung tanzte sie jahrelang in der niederländischen Compagnie Trash, die Bewegung mit Bildern und Film kombiniert. Dort, so sagt sie, habe sie gelernt, sich als eine der wenigen Frauen in diesem Metier zu behaupten.
Den Silbernen Löwen der Tanzbiennale 2021 erhielt sie während ihrer Schwangerschaft. Es herrschte Lockdown, und eigentlich hatte sie angesichts der widrigen Umstände schon mit ihrer Tanzkarriere abgeschlossen und sich mit einer Zukunft als Yoga-Lehrerin angefreundet. Doch nun ist alles anders. Der Weg für Choreografinnen sei noch lang, sagt sie, aber die Richtung stimme. Und es gibt wenig Zweifel daran, dass Oona Doherty genau weiß, wo es langgeht ...
Oona Doherty: „Navy Blue“ Weltpremiere 10.8., 20 Uhr, 11.8., 12.8., 20.30 Uhr, 13.8., 19 Uhr, Internationales Sommerfestival 10.8. bis 28.8., Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de