Hamburg. NDR Elbphilharmonie Orchester – bei der Aufführung entstand kein wirklicher Klangfluss. Und eine Erinnerung wurde wach.

Gustav Mahler hat seiner Dritter die Überforderung eingeschrieben. Was ist das für eine Sinfonie, die sich in Struktur und Ausdehnung an keine Konvention hält, die Szenen und Bilder schroff gegeneinander schneidet und die Hörer rücksichtslos in Gefühlswelten hineinwirft? Auch der Komponist selbst muss sich der Musik ausgeliefert gefühlt haben. „Das ist weit, weit über Lebensgröße“, schrieb er seiner Vertrauten Natalie Bauer-Lechner. „Wahres Entsetzen fasst mich an, wenn ich sehe, wohin das führt.“

Diese Grenzen- und Kompromisslosigkeit scheint bei der Aufführung des Riesenwerks durch das NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Semyon Bychkov stellenweise auf. Doch der Funke springt nicht über. Das liegt zum einen – paradoxerweise – daran, wie ausdrucksstark und plastisch Bychkov zu Werke geht. Zu Beginn bricht eine Fanfare der acht Hörner über den Saal herein, dann wendet sich die Musik alsbald ins Bedrohlich-Finstere. Die Streicher tremolieren fast unhörbar, die Große Trommel droht leise. Schwelgt die Sologeige selbstvergessen, fällt ihr die Klarinette ins Wort. Und Mahlers gruselige Militärrhythmen sind ohnehin nie fern.

Elbphilharmonie: Erster Satz wie Wimmelbild von Hieronymus Bosch

Die Gedanken und Motive reihen sich blankgeputzt wie auf dem Silbertablett aneinander, aber sie gehen keine untergründige Verbindung ein. Der erste Satz präsentiert sich wie eins der grotesk-aufgeladenen Wimmelbilder des barocken Malers Hieronymus Bosch.

Er ist mit seiner fragmentarischen Struktur höchst anspruchsvoll zusammenzuhalten. Man kann es weder sehen noch erklären, wie das geht, aber man kann hören und vor allem fühlen, ob es gelingt.

Der Flow will sich auch deshalb nicht einstellen, weil zu viele kleine Unfälle passieren. Wenn im ersten Satz die Posaune zu ihren Solopassagen ansetzt, wackeln die leisen Auftakte tonlich. Im tiefen Blech schwankt die Intonation, im Holz und auch bei den Hörnern klappern Einsätze. Das kostet jedesmal Aufmerksamkeit, es verhindert, dass man sich dem Hören hingibt und sich einlässt auf die Reise durch Mahlers zerklüftetes Seeleninneres.

Mahlers Dritte hinterlässt unter Bychkov nur irdischen Eindruck

Nicht einmal im vierten Satz „O Mensch! Gib Acht!“ wird das Zeitempfinden aufgehoben. Das Timbre der Altistin Wiebke Lehmkuhl strömt nicht wie sonst, zudem intoniert sie gelegentlich deutlich tiefer als die Hörner. Und der Knabenchor Hannover ist im fünften Satz fast nicht zu hören, wenn er mit den Damen des Rundfunkchores Berlin zusammen singt.

Vor vielen Jahren hat das Orchester die Sinfonie mit dem großen Mahler-Exegeten Michael Gielen in der Laeiszhalle gespielt. Der alte Herr stand nahezu reglos vor den Musikern. Den großen Streichergesang im letzten Satz ließ er aufleuchten, als käme er schon aus dem Jenseits. Die Erinnerung an diesen Moment ist unauslöschlich. Um so größer das Bedauern über den irdischen Eindruck, den die Dritte im Juni 2022 hinterlässt.