Hamburg. Die Filarmonica della Scala mit Riccardo Chailly war für ein paar Stunden zu Gast in Hamburg – vielleicht ein bisschen zu kurz.
Ein bisschen Plüsch haben sie mitgebracht von daheim: Zum Konzert der Filarmonica della Scala – ja, genau der berühmten Mailänder Scala – in der Elbphilharmonie steht vor dem Orchester ein rotsamten bezogenes Dirigentenpodest, und die Notenmappen sind ebenfalls rot.
Mendelssohn und Mahler stehen auf dem Programm. Spielen die sonst nicht den ganzen Tag Verdi? Vorsicht. Die Filarmonica della Scala ist nicht zu verwechseln mit dem Orchestra del Teatro alla Scala. Der große Claudio Abbado rief sie 1982 mit Mitgliedern des Opernorchesters ins Leben, um sinfonisches Repertoire zu erarbeiten. Wie viel Operndienst die Musiker im Alltag schieben mögen, von Routine ist bei ihrem Auftritt in der Elbphilharmonie nichts zu merken.
Elbphilharmonie: Riccardo Chailly inspiriert Scala-Orchester und Publikum
Auf dem roten Podest steht nämlich Chefdirigent Riccardo Chailly, und der versprüht mit wenigen Bewegungen eine Inspiration, die den ganzen Saal ergreift. Mendelssohns e-Moll-Violinkonzert ist für ein Orchester dieser Kragenweite wahrlich keine Herausforderung. Aber selbst in einer fetten Streicherbesetzung mit 14 ersten Geigen sind sie dem Solisten Ray Chen ein klanglich, dynamisch und rhythmisch flexibler Partner.
Chen seinerseits hält so intensiv Kontakt mit dem Orchester, dass man meinen könnte, er hätte lauter Ohren auf dem Rücken. Die Musik spiegelt sich in seiner Mimik wie in Vergrößerung wider. Er führt in den schnellen Sätzen geradezu eine Art Veitstanz auf. Es ist ein Starkstrom-Mendelssohn, was an diesem Abend in der Elbphilharmonie erklingt, von den Erkenntnissen der Originalklangbewegung unangekränkelt.
Ein Handy klingelt? Der Solist Ray Chen spielt souverän weiter
Aber man kann Mendelssohn auf viele Arten spielen, wenn man so glaubwürdig im Ausdruck ist wie Chen. An den zirkusreifen Läufen und Doppelgriffen des letzten Satzes hat er ein koboldhaftes Vergnügen. Nur hin und wieder geht die Unbedingtheit des Wollens ein wenig auf Kosten des Klangs. Chens Stradivari klingt recht hell, und manchmal wirkt es, als würde er Lautstärke durch Bogendruck erzwingen und so dem Instrument die Möglichkeit nehmen, frei zu schwingen.
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Chen gibt alles, und das Publikum liebt ihn dafür. Er bedankt sich mit einer süffig-virtuosen Paganini-Caprice – und als anfangs ein Handy hartnäckig dagegenhält, hält er kurz inne, schaut in die Richtung des Geräuschs, grinst komplizenhaft und spielt souverän weiter.
Die Mailänder Scala – sehr (zu?) kurz zu Gast in Hamburg
Zu so viel unbekümmert überschäumender Lebensfreude bildet Mahlers Erste nach der Pause einen scharfen Kontrast. Bei Mahler geht es um alles. Selbst in die zauberhaften Naturschilderungen des ersten Satzes sind Grübeln und Verzweiflung schon eingewoben. Chailly und die Seinen folgen dieser Seelenreise bis an die Abgründe, lassen Crescendi lange unterm Deckel brodeln und entfesseln sie dann um so heftiger. Warm blühen die Holzbläser, das Blech spielt kraftvoll und hochkultiviert, und die Streicher artikulieren wunderbar homogen.
Im dritten Satz, in dem Mahler die Melodie des Kanons „Bruder Jakob“ in untröstliches Moll wendet, nehmen Trompeten und Oboen plötzlich nach bester Klezmer-Manier Anlauf zum Tanz, ziehen das übrige Orchester mit hinein – und dann lassen die Celli mit ihren Bogenstangen die Knochen klappern. Gruselig ist diese Erste, bis hin zu den Pianissimo-Fanfaren der Hörner und Trompeten im letzten Satz. Mahlers Musik spricht zu uns allen an diesem Abend.
Schade, dass der Saal bei weitem nicht ausverkauft ist. Ob’s an der frühen Uhrzeit liegt? Das Konzert hat schon um 18.30 Uhr begonnen, auf Wunsch des Orchesters. Das hat am nächsten Morgen nämlich schon wieder Probe in Mailand.