Hamburg. „Italienischen Opernwochen“ haben begonnen. Verdis Seelendrama „La Traviata“ als Kontrapunkt zur politischen Lage.
Darf man das? Die immer neuen Grässlichkeiten aus der Ukraine für einen Abend vergessen? Unabhängig von Moralurteilen: Bei Verdis „La Traviata“, der ersten Vorstellung der diesjährigen „Italienischen Opernwochen“ an der Staatsoper Hamburg, konnte man in einer Geschichte versinken, die mit der Realität im März 2022 so viel zu tun hat wie eine Federboa mit einem Kampfanzug.
Eine Frau ist wegen ihres zweifelhaften Vorlebens für die gute Gesellschaft untragbar: Von heute aus betrachtet ist der Kernkonflikt von Alexandre Dumas’ Roman „Die Kameliendame“, auf dem die Oper beruht, reichlich verstaubt. Nur eben nicht für die Frau, die um gesellschaftlicher Normen willen gezwungen wird, ihrer Liebe zu entsagen, und melodiensatt an Demütigung, gebrochenem Herzen und Schwindsucht stirbt.
„La Traviata“ an der Staatsoper Hamburg: radikal entschlackt
2013 haben Johannes Erath und die Bühnenbildnerin Annette Kurz Verdis Allzeithit für die Staatsoper radikal entschlackt. Einziges Mobiliar sind ein paar Autoscooter als Symbol für das unbeschwerte Vergnügen und seine Vergänglichkeit. Mehr braucht diese „Traviata“ nicht, so entschieden bündelt der Regisseur das Geschehen. Seine Hauptfigur begleitet er von den mondänen Pariser Partys bis zum Show-down mit Giorgio Germont, dem Vater von Violettas geliebtem Alfredo, in dessen Folge sie Alfredo verlässt (und ihm auch noch den Grund verheimlicht).
Aida Garifullina singt Violettas Entwicklung von der Lebedame zur selbstlos Verzichtenden nicht einfach, sie verkörpert sie. Anfangs wirkt ihr Sopran in der Höhe etwas scharf und fast zu leicht für die Partie, aber wie die Figur gewinnt auch die stimmliche Darstellung immer mehr Format. Garifullina hat Atem und Fülle für die weiten Melodien, sie lotet in die Tiefen von Violettas Verzweiflung und nimmt sich jene Freiheit, die es für die Verdi’sche Italianità braucht.
„La Traviata“: Reines Verdi-Glück tönt auch aus dem Graben
Ihre Auseinandersetzung mit dem alten Germont ist das Herzstück des Abends. Artur Ruciński singt den Vater mit sonorem, wandelbarem Bariton und macht auch dessen Seelennöte – er ist der Anlage nach ja eigentlich der Widersacher des jungen Glücks – spürbar. Riesiger Szenenapplaus. Und Pavol Breslik erweist sich mit zwischen kraftvoll und duftig fein abschattiertem Tenor der Liebe dieser großen Frau würdig.
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Reines Verdi-Glück tönt auch aus dem Graben. Stefano Ranzani hat die Emotionalität dieser Musik im kleinen Finger. Er und das Philharmonische Staatsorchester gehen ganz im Moment auf, atmen mit den Sängern, offenbaren den erschütternden Ernst zwischen all den satten Melodien. Und auch der Staatsopernchor singt plastisch und beseelt. Man meint die Erleichterung der Sänger zu hören, dass die coronabedingte Verbannung in die Logen endlich vorbei ist. Und landet am Ende dieses Abends reichlich unsanft in der Wirklichkeit.