Hamburg. Einmal Tokio und zurück? Der Klima-Abdruck der Branche sah vor Corona teils schlimm aus. Das liegt auch an einem heiklen Balanceakt.

In einigen Bereichen ist die Klassik-Branche weit vorn, wenn es um das Recycling wichtiger Rohstoffe geht: Niemand käme jemals auf die Idee, eine Stradivari zu entsorgen, bloß weil sie schon mehr als 400 Jahre alt ist. Während in Pop-Hitparaden nach Wochen abgerechnet wird, sind Publikumslieblinge mit Opuszahlen seit Ewigkeiten auf Spitzenplätzen einbetoniert; sie werden wieder und wieder gespielt, und die meisten im Publikum können bestens auf jeglichen zeitgenössischen Nachschub verzichten.

Andererseits aber: Die Öko-Bilanz dieses so speziellen Kultur-Betriebs sah vor Corona größtenteils schlimm aus. Interkontinentale Orchester-Tourneen verursachen üblere CO2-Bilanzen als Hans-Dietrich Genscher in seinen Außenminister-Jahren. Das Klassik-Magazin „VAN“ hat gerade vorgerechnet, dass ein 80-köpfiges Orchester plus Begleitung bei einem Economy-Flug innerhalb Europas rund 20 Tonnen CO2 verursachen würde, das sei mehr als das Dreifache des jährlichen Pro-Kopf-Ausstoßes in Italien, Großbritannien oder Frankreich.

Öko-Bilanz der Klassik: Einmal nach Tokio und zurück?

Einmal nach Tokio, zur klassikbegeisterten japanischen Kundschaft, die für Importe aus Fernwest gern viel bezahlt: 230 Tonnen CO. International gefragte Stars rasten so sehr durch alle Zeitzonen und die wichtigen Konzerthäuser, dass sie mitunter nur ahnten, wo sie gerade sind und warum. Heiligen solche Prestige-Ziele jedes Transportmittel? Wohl nicht. Oder besser: nicht mehr, jedenfalls nicht mehr einfach so.

So also kann, soll, darf es im Jahr 2 m. C. (mit Corona) nicht weitergehen, sagen nun viele, sowohl Künstler als auch deren Manager – besonders gern und demonstrativ auch jene, die vorher zu den eifrigsten Sündern zählten. Einige sind bereits wieder so flott wie früher unterwegs, um Auftritte nachzuholen und Groß-Gagen einzuspielen.

Vor wenigen Tagen und coronabedingt – man hatte wegen der akuten Bedrohungen für das Kultur-Überleben andere Prioritäten – mit anderthalb Jahren Verspätung hat die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) ein „Positionspapier zur Nachhaltigkeit im Orchester- und Konzertbetrieb“ veröffentlicht. 13 Seiten – mit dem Anspruch, „zu Vorbildern für die Gesellschaft zu werden“. Und steilen Slogans à la „Es gibt keinen Ideenstau, sondern einen Umsetzungsstau“.

Viele Ansätze sind löblich – aber auch sehr kleinteilig

Die DOV-Wunschliste ist lang: Ökobilanzen für die Arbeitsorte und Tour-Organisation, für Teilnahme an Festivals und Einbindung des Personals in den Wandel. Liest sich harmonisch und nobel, aber auch anstrengend kleinteilig, von Dienstplan-Optimierungen bis zur Überlegung, Konzertzeiten so zu legen, dass Publikum aus der Region nicht mehr der letzten Bahn oder dem letzten Bus hinterherwinken müsste. Und sollte man Chefdirigenten bei dieser Gelegenheit nicht gleich darauf festnageln, länger vor Ort zu sein, anstatt wochenweise einzufliegen? Der klassischste aller Karajan-Witze hat jedenfalls ausgedient: „Maestro, wohin sollen wir Sie bringen?“, fragte ihn der Chauffeur. „Egal, ich werde überall gebraucht!“

Wer sucht, findet vielerorts löbliche Ansätze: den Onlinerechner der britischen Benefiz-Organisation „Julie’s Bicycle“, mit dem Kulturanbieter ihren Öko-Fußabdruck ermitteln können. Programmhefte werden digitalisiert, Karten kann man unausgedruckt ins Smartphone laden. Pianistinnen und Pianisten sparen den Umblätterer, weil sie ihre papierlosen Noten auf dem iPad dabeihaben. Die ersten deutschen Profi-Orchester leisten sich Nachhaltigkeitsbeauftragte, es gibt staatliche Fördermittel aus Berlin für wegweisende Projekte.

Nomen est omen bei einer Initiative, die 2020 von Mitgliedern der Staatskapelle Berlin gegründet wurde: „Orchester des Wandels e. V.“ (OdW). Was 2009 als Frust-Reaktion auf die Klimakonferenz in Kopenhagen begann, ist nun ein Verbund von zwei Dutzend Ensembles, auch die Hamburger Philharmoniker sind dabei. Erlöse der OdW-Klimakonzerte gehen in ein Aufforstungsprojekt auf Madagaskar, für Ebenholzbäume, aus denen Griffbretter für Geigen und Gitarren entstehen.

Elbphilharmonie Orchester gab Klima-Mahn-Konzert

Konzertprogramme lassen sich klug grün färben: Ligetis „Atmosphères“, Mendelssohns „Sommernachtstraum“, Takemitsus „Rain“. Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja hat sich schon vor einigen Jahren ein „Dies irae“-Konzeptkonzert ausgedacht, um wütend gegen die vorherrschenden Verhältnisse zu protestieren. Freiburg ist Heimat der Agentur Albert Konzerte, die mit der Hamburger Klimaschutzagentur ARKTIK den größeren Teil ihrer Veranstaltungen klimaneutral durchführt. Sponsoren sind „Klima-Partner“. Die Staatsphilharmonie Nürnberg will bei der Staatstheater-Sanierung ein grünes Wort mitreden und sich zum klimaneu­tralen Orchester verbessern. Das Auftaktkonzert im Juli trug das schöne Motto „Wenn Musik auf fruchtbaren Boden fällt“. Passgenau wollen, dann geht viel.

Vor fast genau zwei Jahren gab das NDR Elbphilharmonie Orchester ein Klima-Mahn-Konzert, gespielt wurde eine Verfremdung von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, dessen Heimatstadt Venedig stand damals gerade dramatisch unter Wasser. „For Seasons“ sei eine Metapher für das, was in der Natur passiere, hatte Chefdirigent Alan Gilbert gesagt.

Eine Flutkatastrophe im Ahrtal später, wir haben Ende 2021, das NDR-Orchester ist auf Europa-Tournee, ein gutes halbes Dutzend Termine in Deutschland und Spanien, nach zwei Jahren Corona-Zwangspause. „Die Planung hängt noch von Bedingungen ab, die nicht allein von den Ensembles, sondern auch von den Tourbetriebs-Strukturen vorgegeben sind“, teilt der NDR mit. „Dazu gehören Abläufe mit engem Zeitkorsett oder Strukturen von Konzertreihen örtlicher Veranstalter. Wir haben immer dann Zugverbindungen gewählt, wenn es möglich ist – auch wenn es zu bisher unüblich langen Reisezeiten kommt.“

Wer in der Klassik bekannt werden will, muss reisen

„Im Hinblick auf die Wahl des Verkehrsmittels machen wir Künstlern und Agenturen keine Vorschriften – sie selbst sind bei dieser Frage hellhörig genug“, heißt es zu diesem Thema aus der Elbphilharmonie. Man achte „schon seit Längerem verstärkt darauf, dass Künstler nicht wegen eines einzigen Elbphilharmonie-Engagements um die halbe Welt jetten. Da greifen ökonomische, ökologische und auch ethische Aspekte ineinander.“ Für das Musikfest 2022 unter dem Leitmotiv „Natur“ seien einige Nachhaltigkeitsprojekte geplant, und zum gerade verkündeten neuen Hauptsponsor wird erklärt: „Porsche verfolgt in Sachen Elektromobilität ehrgeizige Ziele, die gut zur Elbphilharmonie passen.“

In Hamburg ist der „Fluch“ der guten Tat, ein international relevantes Konzerthaus mit entsprechendem Ehrgeiz gebaut zu haben, besonders knifflig. Wer „Elbphilharmonie“ sagte und sie auf diesem Level betreiben will, mit Kulturauftrag, Stadtvermarktungskonzept, Touristen-Magnetismus und allem Drum und Dran, der kann sich nicht benehmen und planen wie in der Regionalliga-Mittelklasse.

Lediglich irgendeinen Star-Dirigenten für üppige Abendgage anreisen zu lassen und ihn dann vor das günstige, ökobilanzgünstigere örtliche Orchester zu stellen, weil die hiesige Cello-Gruppe mit Lastenfahrrädern zum Auftritt strampelt? Eine prinzipiell hehre, aber eher unrealistische Idee, vorbei auch am Markt: Wer bekannt werden will, muss reisen. Wer es bleiben will, auch. Das Konzerthaus in Helsingborg engagiert seit 2020 nur noch Dirigenten und Solisten, die mit Zug oder Schiff kommen. Aber, mit viel Verlaub, es ist das Konzerthaus in Helsingborg.

Balance zwischen Regionalität und Wow-Faktor ist heikel

Die von Haarspray (Ozonloch!) zusammengehaltene Band Opus machte lausige Musik, hatte aber recht: Live is life. Anregende, aufregende Kultur braucht Gedankenaustausch und Inspiration von außen. Hinterm Horizont geht’s weiter, stationäre Nabelschau verursacht kreativen Tunnelblick.

Doch die Balance zwischen verordneter Regionalität und dem erhofften Wow-Faktor ist ziemlich heikel. „Die NDR-Ensembles bilden derzeit ‚Klima-Arbeitsgruppen‘, um über singuläre Aktionen hinaus – wie zum Beispiel die Baumpflanzaktion zum Jubiläum – langfristige Maßnahmen und Kooperationen mit anderen Orchestern zu verabreden“, heißt es von dort. „Wir versuchen Weichen zu stellen. Eine Überlegung ist, künftig über kleine Residenzen mit mehreren Konzerten an einem Ort nachzudenken und so Reisebewegungen zu verringern.“

Eine Idee, die mehr und mehr auch in elbphilharmonische Spielpläne einsickert: Im November ist das Mahler Chamber Orchestra mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes für drei Mozart-Abende hintereinander in der Stadt, Ende Mai das Oslo Philharmonic für alle sieben Sibelius-Sinfonien.

Elbphilharmonie will eine Umweltgruppe einrichten

Die Laeiszhalle trägt seit zehn Jahren ein Ökoprofit-Siegel, für die Elbphilharmonie begann die Evaluierungsphase im November 2019, wurde von Corona unterbrochen und wird nun fortgesetzt. Diese Zertifizierung ist ein städtisch geförderter zweijähriger Beratungsprozess mit dem Ziel, Potenziale zur Abfall- und Abwasserreduktion sowie zur Verringerung des Verbrauchs an Energie, Wasser und Betriebsmitteln aufzudecken und anzustoßen.

Ein weiteres von vielen Problemen: Wer kompensiert wie was für wen? Wenn die Elbphilharmonie mit Veranstaltern kooperiert, um ein Orchester auf seiner Tournee durch etliche Länder auch nach Hamburg zu bringen – wer ist wofür genau in der Ablass-Schuld? Für sich selbst hat die Elbphilharmonie eine Lösung gefunden: Anreisen für Eigenveranstaltungen und Dienstreisen werden seit 2017 über atmosfair ausgeglichen, in der Saison 2017/18 waren das 192 Tonnen CO2, in der nächsten 489 Tonnen und in der Spielzeit 2019/20 590 Tonnen.

In dieser Saison soll eine abteilungsübergreifende Umweltgruppe eingerichtet werden, die sich jeden Bereich des Betriebs vornehmen wird, um Optimierungspotenziale im Hinblick auf Nachhaltigkeit zu erfassen und umzusetzen, von der Mülltrennung über Bürobedarf, Saal- und Foyerbeleuchtung bis zum ressourcengerechten Umgang mit Speisen in der Cafeteria.

Elbphilharmonie fährt mit 100 Prozent Ökostrom

Die Elbphilharmonie fährt mit 100 Prozent Ökostrom, bei vielen Veranstaltungen ist die HVV-Nutzung für Hin- und Rückfahrt eingepreist. Es gibt zwar ein fesches Parkhaus, aber keine E-Ladestationen. Und wie sollte man auch die Kartenkundschaft – erst recht in der sensiblen Corona-Rückkehr-Hoffnungsphase – dazu verdonnern, den eigenen Wagen stehen zu lassen? Viele Puzzle-Steine, für ein komplexes Gesamtbild, das immer klarer wird, während die Uhr tickt und tickt.

Konzert zum Thema: 11.10. 20 Uhr, RSO Berlin, Markus Poschner, Alexej Gerassimez (Percussion). John Psathas „Leviathan“: 2020 im Rahmen des „Pastoral Project“ zum Beethoven-Jahr 2020 für Alexej Gerassimez geschrieben, als Kommentar zum Klimaschutz und gegen die Verschmutzung der Meere. Dazu Beethovens 7. Sinfonie. Elbphilharmonie, Eventuell Restkarten unter www.elbphilharmonie.de