Hamburg. Auf seinem neuen Album „The Art of Life“ spielt einer der besten jungen Pianisten weltweit Musik von Bach und dessen vier Söhnen.

Fragt man nach dem derzeit grandiosesten, komplettesten Pianisten in der U-40-Kategorie, ist Daniil Trifonov ganz weit oben dabei. Rachmaninow, Prokofiew, Liszt, Chopin – vor allem mit großkalibriger spätromantischer Virtuosen-Literatur ist er weltberühmt geworden. Jetzt aber, für die aktuelle CD, die Rolle rückwärts ins Barock: Johann Sebastian Bach, das abstrakte Spätwerk „Die Kunst der Fuge“, umrahmt mit Verwandten und Bearbeitungen.

Was ist härter: Zum ersten Mal das Skrjabin-Klavierkonzert spielen oder zum ersten Mal Vater sein?

Daniil Trifonov So schwer zu spielen ist dieser Skrjabin gar nicht, für Orchester und Dirigent ist er schon schwieriger, das ist kein gängiges Repertoirestück. Aber bei Skrjabin weiß man als Pianist in aller Regel zumindest, was man tut. Das Vatersein lernt man währenddessen.

Sie haben ein Bach-Album aufgenommen, mit der „Kunst der Fuge“ als Zentrum. Wieso ausgerechnet diesen Bach, wieso jetzt? Und: „Wieso nicht?“ wäre keine gute Antwort.

Daniil Trifonov Ich wollte mich schon lange mehr auf Bachs Musik konzentrieren. Tatiana Zelikman, meine Lehrerin in Moskau, hatte von mir immer wieder verlangt, dass ich mit Sergei Babayan in Cleveland mehr Bach studiere. Er hatte unter anderem mit Helmuth Rilling daran gearbeitet und ein grundlegendes Verständnis von Zyklen wie dem Wohltemperiertem Klavier, den Goldberg-Variationen und anderen Werken. Ich wusste aber auch, dass Bach viel Zeit beanspruchen würde. Bei der „Kunst der Fuge“ war es mehr als ein Jahr. Bach übe ich sehr gern – diese Musik ist so klar, so logisch. In den seltensten Fällen übe ich mehr als acht Stunden täglich, nur vor Wettbewerben habe ich so viel gespielt. Doch hier fiel mir dieser Zeitaufwand nicht schwer. Wenn sich der Verstand einmal auf diese Musik einlässt, ist es schwierig, sich wieder davon zu lösen.

Sie haben nicht nur die „Kunst der Fuge“ geübt, sondern auch ein Ende komponiert, das es von Bach selbst ja nicht gibt. Das ist so, als ob man mit Gottes Spielzeugen hantiert. Wie kompliziert war das für Sie?

Daniil Trifonov So kompliziert war es tatsächlich nicht. Ich habe zunächst die vorhandenen Stimmen verwendet und mich an die Regeln der Polyphonie gehalten. Bei romantischerer Musik muss man so viele Entscheidungen fällen und kann sich darin verlieren – hier zeigte einem das Material selbst den Weg.

Bei den Salzburger Festspielen und dem Musikfest Bremen habe ich Sie mit Ihrem Bach-Programm leider verpasst. Sie sollen diese spätbarocke Musik „romantisch“ gespielt haben, war danach zu lesen. Ist er für Sie etwa ein sehr früher Romantiker?

Daniil Trifonov So würde ich das nicht sagen. Natürlich spiele ich in jedem Konzert etwas anders, aber ich sehe Bach nicht als Romantiker im üblichen Sinne. Diese Musik hat viele emotionale Momente, aber das macht sie noch nicht romantisch.

Wieso haben Sie das Album „Art of Life“ genannt und nicht „Art of the Fugue“?

Daniil Trifonov Das Stück zu hören ist eine ziemlich komplexe Angelegenheit. Bei Konzerten starte ich deswegen normalerweise anders, mit Brahms‘ Bearbeitung der Bach-Chaconne für die linke Hand. Wenn man mit der „Kunst der Fuge“ beginnt, ist es für das Publikum und den Pianisten schwieriger, sofort ganz in der Musik zu sein. Also zeige ich Bach zunächst aus anderen Perspektiven. Seine Musik ist kommunikativer als die seiner Vorgänger, ein Wegbereiter für offenere musikalische Ideen, wie die Musik seiner Söhne, von denen ebenfalls Werke auf der CD zu hören sind. Carl Philipp Emanuel ist wohl der radikalste und innovativste, sehr modular, er bringt unterschiedliche Elemente zusammen, ganz ähnlich wie Jahrhunderte später Strawinsky. Johann Christian Bachs Einfluss auf Mozart ist sehr deutlich. Und ich wollte auch Anna Magdalenas Notenbuch vorstellen, eine interessante Sammlung, die eine häuslichere Atmosphäre und die musikalischen Interessen der Familie zeigt.

Woran – außer Gott und sich selbst – muss man glauben, um Bach gut spielen zu können?

Daniil Trifonov In Gardiners Buch über Bach habe ich etwas sehr Interessantes gelesen: Für die Kirche sei die polyphone Musik eine Art Gottesbeweis gewesen, weil sie die inneren Mechanismen des Universums abbildete. Vier Stimmen in so komplexer und dennoch sinnvoller Korrespondenz miteinander galten als göttlich. Während ich also diese acht Stunden am Tag Bach übte, fühlte sich das nicht so lang an. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass es Musik des Universums ist.

Was ist effektiver für eine Interpretation: Über die Musik nachzudenken oder sie zu üben? Rein mechanische Probleme dürften Sie ja nicht mehr haben; wenn, dann geht es um den Zugang zur Musik.

Daniil Trifonov Es gibt so viele Spezialaufgaben... Wie spielt man auf einem modernen Flügel eine Fuge so, dass es im besten Interesse der Musik ist? Es gibt den Konsens, dass es möglich ist, alle Stimmen gleich zu spielen. Aber auf einem Flügel kann es schnell passieren, dass man strukturelles Durcheinander produziert, das alles ununterscheidbar wird.

Zuletzt habe ich Sie hier in Hamburg gehört, mit dem NDR-Orchester und dem Schnittke-Klavierkonzert. Ihr Anblick hat mir etwas Angst gemacht: Es muss so fürchterlich einsam auf der Bühne sein, Sie schienen so allein, so weit weg von allem und jedem. Wie schwer ist es, nach so einem Auftritt in einen Normalzustand zurückzufinden? Wie schwer ist es, eine Bühne zu betreten – und wie schwer ist es, sie wieder zu verlassen?

Daniil Trifonov Wenn ich auf eine Bühne gehe, bin ich mit meinen Gedanken natürlich schon in der Musik. Normalerweise weiß ich nach einem Konzert nicht mehr, wie ich mich vor diesem Konzert gefühlt habe. Nach einem Stück wie der „Kunst der Fuge“ braucht es einige Stunden, bis meine Gedanken wieder in die Realität zurückfinden. Aber ich habe mich inzwischen an dieses Hinein und Hinaus gewöhnt.

Können Sie noch, wie alle anderen auch, ein Konzert „nur“ genießen oder haben Sie einen kleinen Pianisten im Hinterkopf, der Ihnen ständig sagt, was alles anders oder besser gewesen wäre?

Daniil Trifonov Ich höre mir sehr viele Aufnahmen an, vor Covid auch viele Konzerte. Aber wenn ich von einer Aufführung begeistert bin, werden analysierende Gedanken mehr und mehr zur Nebensache.

Wie fotografisch ist Ihr Notengedächtnis? Wie…

Daniil Trifonov … ganz und gar nicht. Ich habe das nicht…

Ich hätte gedacht, ich könnte Sie nachts wecken und sofort eines der 60 Konzerte abrufen, die Sie parat haben.

Daniil Trifonov Ich kann vieles sehr schnell abrufen. Aber dennoch: Das, was man normalerweise unter fotografischem Gedächtnis versteht, habe ich nicht.

Der Pianist Víkingur Òlafsson sagte mir, er sei Synästhet, für ihn haben bestimmte Töne bestimmte Farben: C sei weiß, A orange… Geht es Ihnen auch so?

Daniil Trifonov Ja, das hatte ich schon immer, nicht nur bei Tonarten, auch bei einzelnen Noten, sehr individuell…

… und ideal, um Skrjabin zu spielen, der ja auch für ein Farbenklavier komponierte…

Daniil Trifonov … meine Farben sind andere als seine.

Grigory Sokolov gibt seit vielen Jahren nur noch Solo-Konzerte. Keine Auftritte mit Orchester, keine Kompromisse. Könnten Sie sich so etwas auch vorstellen?

Daniil Trifonov Es gibt so viele Konzerte mit Orchester, die ich noch spielen möchte, gerade bin ich fast fertig mit dem zweiten Beethoven-Konzert. Spannend finde ich das Konzert von Mosolov von 1920, das so gut wie niemand spielt und das ich jetzt lernen werde. Das Gershwin-Konzert gefällt mir auch sehr… Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, nicht mehr mit Orchestern aufzutreten.

Auf eine Bühne zu gehen ist: sich nackt machen; Musik zu spielen ist: erfüllend. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für Sie ist. Sie sind stundenlang auf einer Bühne, von deren Magnetismus angezogen. das ist Ihr Beruf, das Zentrum Ihres Lebens.

Daniil Trifonov Man reist mit seinen Gedanken durch die Musik und nimmt das Publikum mit.

Sie können es also bestimmt nicht abwarten, Ihrem jetzt gut einjährigen Sohn zu erzählen, wie toll es ist, Musiker zu sein.

Daniil Trifonov Er hat schon jetzt Spaß daran, die Klaviertasten herunterzudrücken.

CD: „The Art of Life“ (DG, 2 CDs, ca. 19 Euro). Konzert: 1.12. Elbphilharmonie, mit Brahms’ 1. Klavierkonzert. www.elbphilharmonie.de.