Hamburg. Der US-Pianist liefert einen fantastischen Jazz-Neustart in der Elbphilharmonie. Er hat eine besondere Bedeutung für das Haus.

Das Setting war perfekt: der Große Saal der Elbphilharmonie nicht einmal zu einem Drittel gefüllt, reichlich Abstand im Publikum, der Pianist und sein Flügel in weiter Ferne, wie isoliert im Scheinwerfer-Spot. Dazu maßgeschneiderte musikalische Miniaturen: „Keeping Distance“, „Uncertainty“, „Waiting“.

Als Zuhörer konnte man sich wie in einem intimen Clubkonzert in unpassend großem Rahmen fühlen, ein sinnfälliges Szenario für die paradoxe Situation, in der wir uns seit Monaten befinden: der Gefahr bewusst, doch gleichzeitig voller Sehnsucht („Yearning“) auf normales Leben („Remembering Before All This“).

Es spricht für die Kunst von Brad Mehldau, dass er es in seinen zwei Auftritten an einem Abend (18.30 und 21 Uhr) zeitweilig schaffte, die Umstände vergessen zu lassen. Der amerikanische Pianist, der bei Amsterdam lebt und deshalb anders als viele Kollegen in den USA trotz Corona nach Hamburg kommen konnte, erwies sich als die Idealbesetzung für den Jazz-Neustart im Großen Saal, als die er von Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter angekündigt wurde. Brad Mehldau hat eine besondere Bedeutung für das Haus: 2017 gab sein Trio das erste Jazzkonzert in der Elbphilharmonie und auch das letzte am Vorabend des Lockdown im März.

Brad Mehldau hat quasi einen Soundtrack zur Corona-Krise komponiert

Zudem hat Mehldau bereits zu Beginn der erzwungenen Pause mit der „Suite: April 2020“ quasi einen Soundtrack zur Corona-Krise komponiert. Mit den zwölf Miniaturen gestaltete er die jeweils erste halbe Stunde in beiden Konzerten und schickte seine Zuhörer auf eine leicht nachzuempfindende Erfahrungsreise in die enge Welt der eigenen Wohnung, ins neu erfahrene Familienleben und in die soziale Isolation.

Eine weitere Arbeit aus dem Homeoffice präsentierte Mehldau in beiden Konzerten: Die Beschäftigung mit Songs von Lennon/McCartney hat zu einem Beatles-Repertoire geführt, mit dem Mehldau einmal mehr seine besondere Fähigkeit demonstriert, Pop-Songs auf ihre Essenz zu reduzieren und in Jazz-Kompositionen zu verwandeln.

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Das zweite, etwas längere Konzert, bot im zweiten Abschnitt fast ausschließlich Beatles-Cover, von „I am the Walrus“ bis „Golden Slumbers“, dazu „Maybe I’m Amazed“ von Paul McCartney und „Life on Mars“ von David Bowie, während Mehldau im ersten nach der Suite nur zwei Beatles-Cover spielte, zudem Standards von Charlie Parker und Thelonious Monk sowie „Life on Mars“ und als Zugabe Billy Joel’s „New York State of Mind“. Zwei Programme, in denen Brad Mehldau seine technische und thematische Bandbreite entfalten konnte, kurz: ein Solo, das vielfältige Jazz-Welten eröffnete und Erinnerungen wachrief — wie gesagt: „Remembering Before All This“.