Hamburg. Nichts Halbes, nichts Ganzes, dennoch großartig: René Jacobs dirigierte eine Kurz-Version der Oper – ohne finalen Chorjubel.
Das Ende von „Tosca“, aber leider ohne ihren tödlichen Sprung von der Engelsburg. So in etwa wirkte es, als sich nach nur 90 Minuten Leonore und ihr Florestan zwar wiederfanden – und dann, vor dem finalen Chorjubel, brutal verfrüht der imaginäre Vorhang in der Elbphilharmonie fiel. Fallen musste. Chor-Gesang vor Publikum auf einer Bühne, das ist momentan so erlaubt wie öffentliches Vierteilen als Strafe für einmal Falschparken.
Dass dieses Chor-Verbot nun ausgerechnet Beethovens einzige komplette Oper erwischte (ob sie auch vollendet ist, darüber streiten sich Experten), ist eine bittere Ironie. Doch René Jacobs blieb für die großartige konzertante Aufführung der „Leonore“ – Vorgängermodell des späteren „Fidelio“ – nichts anderes übrig, als sich aufs praktisch Machbare zu konzentrieren. Im gestreckten Handlungs-Galopp also ging es Richtung „namenlose Freude“, eine Parallele zur zweiten „Leonoren“-Ouvertüre, die bereits flott alles noch Kommende vorwegnimmt und die Jacobs zur Einstimmung entsprechend dramatisch aufwallen ließ.
„Leonore“ in der Elbphilharmonie mit kleine Streicherbesetzung
Die Freude des Neu-Entdeckens war mit vielen Namen verbunden, einer der wichtigsten ist der des Freiburger Barockorchesters. Dass so ziemlich alles, was Jacobs liebevoll-penibel für seine Aufnahmeprojekte unter die Lupe nimmt, danach interessanter ist als vorher, ist bekannt. Doch wie sehr diese Faszination sich auch im Konzert überträgt, während Jacobs mit maximal unspektakulärer Schlagtechnik den Weg weist, muss man erlebt haben.
Wichtigster Transmissionsriemen dieser Lektion in Werk- und Stilgeschichte war der Orchesterklang. Rund 40 Instrumente nur, weit gespreizt verteilt. Jacobs, als Alte-Musik-Profi den Umgang mit Aufführungspraxis-Herausforderungen gewohnt, sorgte mit sicherer Hand dafür, dass die Balance hielt; weit und breit keine Probleme mit der Saal-Akustik. Im Gegenteil. Denn durch die kleine Streicherbesetzung kam die Klangfarben-Vielfalt der Bläser noch intensiver zum Tragen. Flotte Tempi, großes Vertrauen, aufmerksamer Respekt.
Beethovens „Leonore“: Ensemble, das aus Mozarts Richtung kam
Erstes Prachtbeispiel dieser Detailkunde von vielen war das kammermusikalische Miteinander von Stimmen und Instrumenten im Quartett „Mir ist so wunderbar“. All das verstärkte den Genuss, endlich wieder ein „komplettes“ Opern-Orchester live vor den Ohren und den Augen zu haben. Und um den Singspiel-Charakter der „Leonore“ zu betonen, hatte Jacobs auch für die Live-Aufführung ein Ensemble zusammenstellt, das aus Mozarts Richtung kam, leichte, elegante und geschmeidig geführte Stimmen.
Die Marzelline von Robin Johannsen war ein Traum. Anstatt seinen ersten Auftritt mit dem berühmten „Gott! Welch Dunkel hier!“ groß aufzubauschen, steigerte sich Joshua Ellicott als Florestan behutsam in seine Rolle. Von Brigitte Christensen als Leonore hätte man gern mehr gehört (und noch etwas mehr verstanden). Doch das gilt erst recht für das gleichnamige Meisterwerk, das ja leider Hausverbot hatte.
Das Konzert wird am 16.10., 20 Uhr, in der Elbphilharmonie wiederholt. Evtl. Restkarten. CDs: „Leonore“ (harmonia mundi, 2 CDs, 23 Euro)