Hamburg. Klug, hintergründig, spiellustig – Christoph Heins „Trutz“ ist über Hannover ins Hamburger Schauspielhaus gewandert.

„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“ Rainer Trutz lebt in den 1920ern als Schriftsteller in Berlin, hält sich mit Theaterkritiken über Wasser und gerät mit seinem sozialkritischen Roman „Kleine Stadt, Sonntagmorgen“ ins Visier der Nazis. Weswegen der eigentlich unpolitische junge Mann mit seiner Frau nach Moskau flüchtet, beim Metrobau schuftet, sich mit dem Sprachwissenschaftler Gejm anfreundet und seinen Sohn Maykl zeugt, dessen Erinnerungsvermögen von Gejm optimiert wird.

Im Zuge der stalinistischen Säuberungen wird Trutz in den Gulag verbannt, wo er nicht einmal den ersten Tag überlebt, Maykl kommt ins Kinderheim und wird später in die DDR abgeschoben. Geschichte darf er nicht studieren, weil er sich der Partei verweigert, also wird er Archivar und macht sich gleich bei seiner ersten Arbeitsstelle unbeliebt, indem er die Nazi-Vergangenheit eines hohen SED-Funktionärs aufdeckt. Und nach der Wende entdeckt er erstmal, welche Vorgesetzten früher bei der Stasi waren. Ein Jahrhundert der Gewalt, der Ungerechtigkeit, des Kampfes, ein Jahrhundert zum Vergessen. Aber Maykl kann nicht vergessen.

"Trutz" mit vier Figuren und einem Schauplatz

Christoph Heins 2017 erschienener Roman „Trutz“ erzählt von einem Sympathieträger, der zwischen die Mühlsteine der Geschichte gerät. Fürs Theater ist so ein Stoff eine Herausforderung: reich an Schauplätzen und Protagonisten, überbordend, voller Zeitsprünge. Am Schauspielhaus hat Dušan David Pařízek den Roman auf vier Figuren eingedampft, die sich zwischen zwei riesigen Sperrholzwänden in einem Erinnerungsraum bewegen: Die von Pařízek selbst gestaltete Bühne ähnelt einem aufgeschlagenen Buch, was sich zwischen den Wänden abspielt, sind die Seiten, und auf diesen Seiten steht die Geschichte. Ein Buch ist ein Archiv für Inhalte, und auch diese Bühne ist ein Archiv – ein einleuchtendes Bild.

Das mit sattem Theater gefüllt wird. Realistisch lässt sich die zwischen Berlin, Moskau, Workuta, Potsdam und Weimar springende Handlung ohnehin nicht umsetzen, also stellen Sarah Franke, Henning Hartmann, Markus John und Ernst Stötzner von vornherein klar, dass hier gespielt wird. Und gespielt wird, was geht: Mal wird ein populärwissenschaftlicher Vortrag gehalten, mal virtuoser Slapstick gezeigt, mal Alphorn geblasen, außerdem ständig Rollen getauscht, vervielfacht, verzerrt. Was zwei Effekte mit sich bringt: Einerseits hebelt Pařízek so den Vorwurf aus, die Geschichte realistisch zu vereinfachen, andererseits sorgt die Verfremdung dafür, dass die Konstruktion von Geschichte, Erinnerung und Archiv deutlich wird.

Und nicht zuletzt lässt sie den mit knapp zweieinhalb pausenlosen Stunden recht umfangreichen Abend erstaunlich kurzweilig werden: Man schaut diesen begnadeten Spielern einfach gerne zu, wie sie die Geschichte aufblättern. Schon alleine die Geburtsszene Maykls, in der der 67-jährige Stötzner nackt zwischen den Beinen Frankes hervorglitscht, ist ein Fest der Verwandlungskunst. Das so gnadenlos lustig ist, dass es gleich nochmal wiederholt wird.

Die Rechten, Migration und Abschiebung

Bei dieser Begeisterung fürs entfesselte Spiel gerät freilich aus dem Blick, dass dem Abend ein wenig Spezifik und Dringlichkeit fehlen. Weswegen dieser Rundgang durch das mörderische 20. Jahrhundert im Hamburg des Jahres 2019 zu sehen ist, bleibt unklar, auch wenn mit dem Aufstieg der Rechten, Migration und Abschiebung einzelne aufs Heute übertragbare Motive auftauchen.

Allerdings ist die Inszenierung auch gar nicht für Hamburg entstanden: Premiere feierte „Trutz“ schon 2018 bei den Ruhrfestspielen und wurde im Anschluss ins Repertoire des Schauspiels Hannover übernommen. Dort allerdings wechselte vorigen Sommer die Intendanz, und die neue Chefin Sonja Anders übernahm keine Stücke von ihrem Vorgänger Lars-Ole Walburg.

Zwei Ensemblemitglieder aus Hamburg

Weil aber mit John und Stötzner ohnehin zwei Hamburger Ensemblemitglieder als Gäste besetzt waren, ist es ein Leichtes, den Abend ins Schauspielhaus zu übernehmen. Außerdem arbeitet Regisseur Dušan David Pařízek ab Januar im Malersaal, eine ästhetische Verbindung ist also da. Nachvollziehbar ist diese Programmplanung, und die Inszenierung ist ja wirklich nicht schlecht. Aber passgenau geht anders.

Das Hamburger Publikum scheint ebenfalls irritiert von der Programmierung – trotz Premiere ist das Schauspielhaus bei weitem nicht ausverkauft. Wer allerdings da ist, zeigt sich begeistert von der klugen, hintergründigen, vielschichtigen, nicht zuletzt spiellustigen Aufführung. Der Applaus jedenfalls klingt nach randvollem Saal.

Trutz wieder am 6., 9., 12. 12., 20 Uhr, Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter 248713, www.schauspielhaus.de