Hamburg. In Nestroys „Häuptling Abendwind“ sorgen die Regie mit kuriosen Delikatessen und ein glänzendes Ensemble für Premierenjubel.
Es gibt Theaterabende, für die braucht man eine gute Konstitution. Weil sie ihrem Publikum mental, emotional oder konditionell einiges abverlangen. Für Christoph Marthalers Version von Nestroys „Häuptling Abendwind“ ist eine musikalische Unerschrockenheit ebenso hilfreich wie ein unempfindlicher Magen.
Ein Verdauungsschnaps an der einen oder anderen Stelle würde gewiss nicht schaden, munter kombiniert der Regisseur Johann Sebastian Bach und Jürgen Drews, Chopin und Frank Farian, Wagner und die Beatles - und serviert dazu Kannibalisches vor güldener Politprunk-Kulisse.
Schauspielhaus: Ausgeweidet wird im Hinterzimmer
Es ist fast wie im echten Leben: Ausgeweidet wird im Hinterzimmer. Marmor, Säulen und schwere Vorhänge rahmen im Malersaal des Schauspielhauses das Gipfeltreffen der Staatschefs Abendwind (Josef Ostendorf) und Bieberhahn (Samuel Weiss). Die haben in der Vergangenheit die Gattin des jeweils anderen verspeist und begegnen sich nun – samt Nachwuchs und musikalischer Entourage – in diplomatischer Mission.
Gastgeber Ostendorf wirkt wie die Morph-Version aus Helmut Kohl und einem blondgelockten Gorbatschow, so falsche wie schiefe Zahnreihen wurden von der Maske großzügig unter den Darstellern verteilt. Clemens Sienknecht gibt seinem Unterhaltungschef Hubert Casio am gleichnamigen Keyboard eine herrlich spitzfindige Körperlichkeit, Ueli Jäggi spielt Arthur, den singenden Friseur, der sich in Abendwinds Tochter (eigenwillig und extravagant: Sasha Rau) verliebt und seinem Schlächter die Haare schön macht.
Marthaler arrangiert Details mit liebevollster Inbrunst
Marc Bodnar ist der messerwetzende Koch mit Namen Ho-Gu, was man getrost als „Hautgout“ verstehen darf. Eine „ Mikrophonistin“ (Josefine Israel) liefert Fußnoten zum Geschehen, während Marthaler mit liebevollster Inbrunst die Details arrangiert. Die nur scheinbar nebensächliche Haltungsveränderung, das gewohnt ausgereizte Retardieren. Präzise und mit Spaß am Kuriosen.
Auf der Karte: politische Innereien
Eine Skalp-Sammlung wartet in der Vitrine (Bühne: Duri Bischoff), die sich schließlich zum finalen Festschmaus öffnet. Auf der Karte: Politische Innereien, zweifach delikat. Es gibt „ Dobrindt-Filet“ und „englischen Trennkostteller“, „Söder-Hoden im eigenen Saft“ und „Spaghetti Putinesca“, vor „leichten Abweichungen hinsichtlich der von Nestroy vorgeschlagenen Speiseabfolge“ hatte das Schauspielhaus gewarnt.
Vor allem den fabelhaft aufgelegten Kollegen Ostendorf, Weiss und Sienknecht gelingt es, gleichzeitig subtil und brüllend komisch zu sein, während sie nebenbei Mechanismen der Kommunikation entlarven. „Nicht wahr“, sagt Abendwind, während Bieberhahn sich einen wurstbraunen Brei reindrückt, bei dem die Fantasie des Publikums für den eigentlichen Ekel sorgt, „nicht wahr, beim Essen wird einem nie lang.“ Das gilt erst recht für ein Marthaler-Menü wie dieses. Heftiger Schlussapplaus.