Hamburg. Sie inszeniert am Schauspielhaus eine Collage aus drei Stücken von Thomas Bernhard. Am Sonnabend ist Premiere.
Müde sei sie, sagt Karin Henkel, auch wenn ihr das beim Treffen im Marmorsaal des Schauspielhauses nicht anzumerken ist. Im Gegenteil: Obwohl gerade die letzte Probenwoche läuft, wirkt die Regisseurin hellwach. Am Sonnabend geht die Premiere von „Die Übriggebliebenen“ über die Bühne: Drei Thomas-Bernhard-Stoffe (Die Theaterstücke „Vor dem Ruhestand“ und „Ritter, Dene, Voss“ sowie der Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“) collagiert zu einem Abend. Keine Kleinigkeit.
Sie verbinden in „Die Übriggebliebenen“ drei Stoffe zu einem Abend. Warum eigentlich?
Karin Henkel: Das hört sich größenwahnsinnig an. Aber es ist aufregend, wie sich diese Stoffe spiegeln, sowohl strukturell als auch inhaltlich. In „Vor dem Ruhestand“ und „Ritter, Dene, Voss“ geht es um drei alt gewordene Geschwister, jeweils zwei Schwestern und einen Bruder, die, eingekerkert in ihrer Familiengeschichte, nicht voneinander loskommen. Und bei der „Auslöschung“ ist es ähnlich: Zwei Schwestern und ihr Bruder sind auch nach dem Unfalltod der Eltern in Abhängigkeiten verstrickt.
Worin bestehen die Konflikte der Figuren?
Henkel: Alle Figuren laborieren an derselben Krankheit, sind durch ihre Erziehung in einer autoritären, patriarchalen Welt gefangen. Und mit dieser Erziehung ist bei allen der Keim für faschistoides Verhalten gesät, auch wenn die Kindheit als abstoßend erlebt und darunter sehr gelitten wurde. Thomas Bernhard beschreibt das obsessiv mit sehr drastischen Worten. Es ist reizvoll, die Figuren mit ihren Neurosen, ihrem manischen Verhalten, ihren Angriffen aufeinander in einem Raum zusammenzubringen. Indem Bernhard Faschismus in Verbindung mit diesen kranken Familienstrukturen thematisiert, zeigt er, dass der Übergang zwischen bürgerlicher Neurose und Bereitschaft zu offener Gewalt, wie sie sich in den nationalsozialistischen Verbrechen geäußert hat, fließend ist. Der Faschismus kommt bei ihm sozusagen aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft, er rückt ihn in beunruhigende Nähe.
Es sind ja drei sehr sprachmächtige, eher handlungsarme Stoffe. Wie bekommt man das auf der Bühne lebendig?
Henkel: Bernhard schreibt auf eine sehr musikalische, rhythmische Weise: eine tolle Sprache, auf die wir setzen. Und es ist grotesk, wie er die Neurotik auch in ihrer Bösartigkeit beschreibt. Die Figuren sind nicht besonders sympathisch, aber sie sind sehr komisch, insofern darf man sie auch liebevoll betrachten und herzhaft lachen.
Wie ist Ihr Verhältnis zu Thomas Bernhard? Sie waren 1993 Regieassistentin bei Claus Peymann am Wiener Burgtheater, der ihn ausführlich aufgeführt hat.
Henkel: Wenn man die Texte heute liest, gibt es Passagen, die aktuell erschreckend klingen. „Es kommt wieder die Zeit, da wir Himmlers Geburtstag nicht hinter den Vorhängen feiern müssen“, heißt es da. Das klingt fürchterlich vorausblickend, wenn man an unsere Zeit denkt. Da kriegt man eine Gänsehaut.
Claus Peymann war Vertreter einer anderen Regie-Generation, in der Macht vor allem männlich besetzt war. Wie haben Sie sich da durchgesetzt?
Henkel: Ich hatte Glück, weil ich sehr früh die Chance bekommen habe, etwas zeigen zu können. Natürlich musste ich mich auch durch Widerstände kämpfen. Heute sind Leitungen an Theatern aufmerksam dafür, Frauen mehr Chancen zu geben, insofern bin ich da positiv eingestellt.
Sie waren siebenmal zum Theatertreffen eingeladen. Welche Ziele setzt man sich nach rund 60 Inszenierungen?
Henkel: Ich überfordere mich gerne. Unterforderung ist das Schrecklichste. Auch ein Publikum darf man überfordern, solange man es immer wieder einfängt. Ich schau aber nicht nur, wie meine Karriere läuft. In jeder Inszenierung kommen Menschen mit eigenem Kopf zusammen. Sie sind lauter, leiser, schneller, langsamer, da muss man jedes Mal neu auspegeln.
Sie gelten als eine Regisseurin ohne direkt wiedererkennbare Ästhetik. Erfinden Sie sich jedes Mal neu?
Henkel: Ich langweile mich schnell. Ich bin für alles, was Risiko heißt, bereit. Ich genieße es, wenn ich neu denken muss, die Gehirnzellen wach werden.
Sie erzählen ja häufig drastische Familiengeschichten, die ans Eingemachte gehen. Warum?
Henkel: Die Familie ist der Kern der Tragödie. Alle denken immer, ich müsste aus einer Höllenfamilie kommen, das Gegenteil ist der Fall. Das Changieren zwischen Tragödie und Komödie hat mich immer schon interessiert. Ich freue mich, wenn das Erschrecken auch zum Lachen ist. Das findet man auch bei Thomas Bernhard. In Familienabhängigkeiten ist man poröser, offener für Verletzungen. Das kennt jeder.
Sie zeigen mit Vorliebe starke Frauenperspektiven. Sind Sie eine Theater-Feministin?
Henkel: Ich weiß nicht, ob das zu sehen ist, aber ich finde es schön, wenn andere das über mich sagen. Ich kenne so viele fantastische Schauspielerinnen, die oft zu kurz kommen, weil das Rollenrepertoire für Männer geschrieben wurde.
Sie werden als Intendantin der Berliner Volksbühne gehandelt. Wären Sie interessiert?
Henkel: Nein, das Haus hat eine Geschichte, die viel zu befangen ist. Manchmal überlege ich, wie es wäre, all die wunderbaren Leute, die ich kenne, zu einer tollen kreativen Kraft zu versammeln. Es gibt aber keine konkreten Pläne.
„Die Übriggebliebenen“ Premiere Sa 16.2., 19.30, Schauspielhaus, Karten: T. 24 87 13