Hamburg. Karin Beier inszeniert Edward Albees Beziehungsdrama am Schauspielhaus. Ein böser, abgründiger, toller Abend.
Es werde, so warnt das Programmheft zartbesaitete Zuschauer vorsorglich, auf der Bühne „vermutlich zu sexuellen, unter Umständen sogar außerehelichen sexuellen Handlungen“ kommen. Außerdem „regelmäßig zur Darstellung häuslicher Gewalt“, wobei „exzessiv geraucht“, eine „explizite Sprache“ benutzt und „lebensgefährliche Mengen alkoholischer Getränke konsumiert“ werden. „Wir danken für ihr Verständnis und versichern Ihnen, dass dafür unter keinen Umständen Nackte zu sehen sein werden.“
Das ist lustig. Zumal nachdem in „König Lear“, der letzten Schauspielhaus-Inszenierung von Intendantin Karin Beier, eine Premierenzuschauerin eben darüber hörbar Missfallen geäußert hatte. Und erst recht doch bei einem Stück wie nun also Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, in dem die Figuren einander so dermaßen bloß stellen, dass äußerliche Nacktheit dagegen höchstens niedlich wirken würde.
Edward Albee ist der Gott des Gemetzels
Ja, auf dem Gebiet der psychologischen Kriegsführung treiben George und Martha sich seit der Uraufführung 1962 zu Höchstleistungen. Man kann wirklich nicht behaupten, dass diese zwei, ein Geschichtsprofessor und die Tochter des Universitäts-Dekans, ihre Ehe nicht ausgesprochen intensiv leben würden. „Schon immer eigentlich, schon ewig“ seien sie verheiratet, erklären sie dem jungen Kollegen-Paar, das sie spät am Abend nach einer Uni-Party noch zu Hause besucht, um den einen oder anderen Absacker zusätzlich zu kippen.
Das Alkohol- und Beleidigungslevel ist von Beginn an so hoch, dass man kurz befürchtet, eine Steigerung sei nur schwer möglich. Bevor man, einigermaßen gnadenlos, eines Besseren belehrt wird. Denn die rohe Brutalität, mit sich das eingespielte Paar hier genussvoll erniedrigt, ist furchteinflößend und eindrucksvoll zugleich. Mögen auch andere in den letzten Jahren in der Kunst des Konversations- und Beziehungsdramas reüssiert haben — Edward Albee (in der Übersetzung von Alissa und Martin Walser) ist eindeutig der Gott des Gemetzels.
Die wichtigsten Requisiten? Gefüllte Gläser und qualmende Zigaretten
Thomas Dreissigacker hat Karin Beier und ihren vier Schauspielern für die erneute Schlacht der Entgleisungen eine Bühne gebaut, die zeitweise wie ein Boxring ohne Sicherheitsseile wirkt, überragt von einem einzelnen, überlangen Baumstamm, der sich aus der Bühnenmitte bis irgendwo weit in den Schnürboden streckt. Und dessen Zweck nicht allein ein ästhetischer ist.
Der gesamte Abend rast auf diesen Baum zu, unaufhörlich, ungebremst. Weiße Ikea-Lampions verbreiten währenddessen trügerische Beschaulichkeit über einem Podest, das zur Bühne auf der Bühne wird. Alles nur ein Spiel etwa? Von gleich zwei Spirituosen-Wägelchen kommt der hochprozentige Nachschub. „Trinken Sie sie leer, Sie werden’s brauchen!“ fordert George seinen Gast auf. Und der Pegelstand wird, wie in den Programmheft-„Warnhinweisen“ versprochen, penibel gehalten. Gefüllte Gläser und qualmende Zigaretten sind die wichtigsten Requisiten.
"Wer hat Angst vor Virginia Woolf": Auf allen Ebenen gutes Theater
Der neue Biologie-Kollege und seine junge Frau, von ihm und den anderen herablassend „Süße“ genannt, sind wie das Publikum zunächst Zaungäste einer sich dann allerdings immer toller drehenden Spirale der Übergriffigkeit. Auch ganz buchstäblich: Ein Höhepunkt der Manöver ist der hemmungslose Tanz der Geschlechter zwischen Maria Schrader und Matti Krause.
Es braucht starke Schauspieler für diese Szenen und Dialoge, erst recht, wenn sie mit einem für alle vorhersehbaren Kammerspiel eine solch große Bühne wie die des Schauspielhauses füllen sollen. Und es braucht eine präzise Regie, die der Eskalation Raum und Rahmen gibt. Das tut Karin Beier. Stück, Regie, Bühne, Darsteller — diese Inszenierung ist auf allen Ebenen „einfach“ gutes Theater.
Totale seelische Entblößung – mit großem Jubel quittiert
Betrunkene zu spielen, ohne zu arg zu übertreiben oder seine Figuren zu verraten, gehört dabei nicht zu den simpelsten Schauspielübungen. Devid Striesow als kauzig-bösartiger George, Maria Schrader als raubkatzige Martha im Schlangenkleid, Josefine Israel als passgenau kieksende Süße und Matti Krause als verlegener Nick gelingt auch das jedoch umwerfend. Alle sind ständig in Bewegung. Vor allem Striesow und Schrader bespielen und dominieren die gesamte Klaviatur der Demütigung und Derangiertheit. Lässig gehässig. Ein Smalltalk-Bedürfnis wird nicht einmal mehr simuliert.
Die Entgrenzung ist ein eingeübtes Spiel des Paares, die Regeln bleiben diffus: Was in manch anderer Ehe unter der Oberfläche gären dürfte und sich gelegentlich in kleinen Boshaftigkeiten Bahn bricht, wird hier ganz offensiv und ohne Angst vor Vulgarität oder Scham ausgefochten. Bis schließlich Marthas imaginärer Sohn von George als ultimative Verletzungsmöglichkeit „getötet“ wird. Er lässt ihn gegen einen Baum knallen, dessen Stamm schon den ganzen Abend nur darauf gewartet hat.
„Unter keinen Umständen Nackte“? Im Gegenteil: die totale seelische Entblößung. Vom Premierenpublikum mit großem Jubel und verdienten Bravos gefeiert.
„Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, wieder am 21. und 25.1., jew. 19.30, sowie am 13., 14. und 27.2., jew. 20.00, Schauspielhaus (U/S Hbf.), Kirchenallee 39, Karten unter T. 248713