Hamburg. Die Hamburger Liedertafel feiert am 17. Juni ihr 200. Jubiläum in der ausverkauften Elbphilharmonie. Ein Besuch bei der Generalprobe.
Aus Häusern und Hütten, Straßen und Gassen strömten die Hamburger am 30. Juni 1814 zusammen, gezeichnet von Hunger und Entbehrung, aber fröhlich und erleichtert: Ein Jahr zuvor hatten Hunderte Bürger die Hansestadt (sowie Bremen und Lübeck) verlassen, um als „Hanseatische Legion“ als Teil der Nordarmee mit Schweden, Preußen, Russen und Briten in den Kampf gegen Napoleon zu ziehen. Jetzt kehrten sie siegreich zurück und hatten, gemeinsam mit anderen Freiheitskämpfern, die französischen Truppen aus Norddeutschland vertrieben. Nach acht Jahren Besatzung war Hamburg wieder frei.
Ein bis dahin nicht gekanntes Gefühl von Einigkeit erfasste nach den Befreiungskriegen die Menschen in den Deutschen Königreichen und Kleinstaaten. Romantik und Patriotismus schlugen sich in Musik, Literatur und Kunst nieder. So gründeten etwa die Rückkehrer der „Hanseatischen Legion“ bei einem Stiftungsfest zehn Jahre nach ihrer Aufstellung zusammen mit dem Komponisten Albert Methfessel am 19. April 1823 einen Männerchor: die Hamburger Liedertafel.
Chor Hamburg: Die Liedertafel überstand drei Kaiser, zwei Revolutionen, zwei Weltkriege
Es gab Kaiser, Revolutionen, Weltkriege, Diktaturen, die Welt drehte sich schneller und schneller – die Hamburger Liedertafel aber blieb. Bis heute. Älter als das Rathaus und die beim Großen Brand 1842 zerstörte Innenstadt ist der Chor nach der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und der Hamburger Turnerschaft von 1816 die am längsten bestehende Hamburger Vereinigung. 10.000-mal begann jede Probe, jeder Auftritt mit Methfessels „Sängergruß“.
Das klingt aus heutiger Sicht nach Erhabenheit, Tradition, Gutbürgerlichkeit, etwas hanseatisch steif. Aber davon ist nichts zu spüren im Studienkolleg am Holstenglacis bei der Generalprobe zum großen Festkonzert zum 200. Jubiläum der Liedertafel am 17. Juni im Großen Saal der Elbphilharmonie. Hunderte Männer und Frauen jeden Alters wuseln durcheinander. Aus einem Raum dringt ein donnerndes, seit Jahrhunderten überliefertes „Im Wald“, aus einer anderen Ecke hört man den Sportfreunde-Stiller-Hit „Ein Kompliment“ und Madonnas „Like A Prayer“, und im Foyer stimmt das Albert Schweitzer Jugendorchester die Instrumente und blättert in Beethoven-Noten.
Die heutige Nationalhymne wurde das erste Mal von der Liedertafel gesungen
„Gut was los, hm?“, brummt Hubertus Godeysen mit fröhlicher Bassstimme. Der Journalist und Schriftsteller ist gesundheitsbedingt – Tinnitus – nicht mehr als Sänger im Chor aktiv, aber als Chronist und Autor von „Hymnen, Hits & Hanseaten – 200 Jahre Hamburger Liedertafel von 1823“ das lebende Gedächtnis der zurzeit 30 singenden Herrschaften. „Die Liedertafel ist mehr als ein Männergesangsverein, sie ist ein bedeutender Teil des Lebens und der Geschichte der Stadt mit allen Höhen und Tiefen.“ Aus dem Stegreif öffnet er Schatzkisten voller Anekdoten, berichtet von historischen Einschnitten.
„Albert Methfessel und die Liedertafel sind die Schöpfer der Hymne ,Stadt Hamburg an der Elbe Auen’. Und die Liedertafel war es auch, die am 5. Oktober 1841 mit der Turnerschaft auf dem Jungfernstieg erstmals öffentlich das ,Deutschlandlied’ aufführte, unsere heutige Nationalhymne“. Die so oft enttäuschte und missbrauchte Sehnsucht nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“, den Weg von der Wartburg über Weimar bis nach Bonn und Berlin begleitete die Liedertafel als „Symbol der Hoffnung, des Liberalismus, des Aufbruchs“, sagt Godeysen.
Tschentscher: „Die Liedertafel ist eine starke Stimme der Musikstadt Hamburg“
Die Nazizeit war auch für die Liedertafel ein düsteres Kapitel. Überwacht von einem „Propagandawart“ sang sie nur selten, 1938 etwa für die Hamburger SA (und provozierte sie mit Griegs „Landerkennung“) und in den ersten Kriegsjahren für die Wehrmacht, bis immer mehr Chormitglieder selber an die Front mussten. Aber nur Wochen nach Kriegsende war die Liedertafel wieder vereint und sang für Ausgebombte, Vertriebene, für Trümmerfrauen und Vereinigungen von ehemaligen Widerstandskämpfern. Bis heute sieht sich der Chor nicht nur als Begleiter festlicher Anlässe wie einst der Grundsteinlegung des Rathauses 1886, sondern als Vorbild für Gemeinnützigkeit, Sozialleben und Gesellschaft, „von Auftritten in Senioren- und Geflüchteten-Heimen bis zu Partnerschaften weit über Deutschlands Grenzen hinaus“, wie Godeysen betont.
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Bei Schicksalsschlägen wie dem Tod des langjährigen Chorleiters Gunter Wolf im Februar dieses Jubiläumsjahres steht man zusammen und schaut nach vorn. Sein Nachfolger Tom Kessler ist Jahrgang 1992, passend zum Grußwort von Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher: „Die Hamburger Liedertafel ist eine starke Stimme der Musikstadt Hamburg, die Tradition und Moderne miteinander verbindet“.
Nachwuchs für den Chor zu finden ist schwer – aber nicht unmöglich
„Wir sind kein singendes Museum“, sagt auch Gerhard Pfeiffer, der Vorsitzende der Liedertafel, „aber es ist heute nicht so einfach, neue Stimmen für den Chor zu gewinnen. Wöchentliche Proben im Turmsaal von St. Katharinen und ehrenamtliche Aufgaben haben heute viel mehr Konkurrenz durch Freizeitmöglichkeiten als früher“. Netflix, TikTok und Technoclubs sind für junge Menschen vielleicht attraktiver als „Sängergruß“, „Abendlied“ und „Stadt Hamburg an der Elbe Auen“. Wer singt daheim unter der Dusche „Heil über dir, Heil über dir, Hammonia, Hammonia“?
Aber es gibt sie. Einige Liedertafel-Sänger sind bereits in dritter Familiengeneration dabei – auch wenn der Nachwuchs bisweilen eigene Pläne hat. Vor vier Jahren gründeten Jesse Früchtenicht und Rico Klaes aus einer Schnapslaune heraus den jungen, mittlerweile bereits 60-köpfigen Chor Bengelsstimmen, der mit dem gemeinsamen, von Inka Stubbe geleiteten Projekt „Join Generation“ eng mit der Liedertafel verzahnt ist. Früchtenicht ist zweiter Vorsitzender der Liedertafel, auch weitere Vereinsämter der Liedertafel haben die Jungs übernommen. „Die Bengelsstimmen sind unsere U21“, lacht Pfeiffer und verweist auf eine neue Begeisterung des Singens unter jungen Hamburgerinnen und Hamburgern, von klassischen Chören bis zu wilden Truppen wie den Goldkehlchen und dem Hamburger Kneipenchor.
Mehr als 100 Chöre sind in der Hansestadt registriert
Denn gesungen wird viel in Hamburg und Deutschland. In Castingshows und in Stadionkurven, in Schulen und Kitas, in Bands und Chören, natürlich auch auf TikTok. Eine Allensbach-Studie im Auftrag des Deutschen Musikrats kam 2021 zu dem Ergebnis, dass 14 Millionen Deutsche über sechs Jahren in ihrer Freizeit musizieren, davon vier Millionen mit ihrer Stimme. Und das gern in einem der 54.000 registrierten Chöre. In Hamburg sind es mehr als 100.
Bei Kindern bis zum Alter von 15 Jahren hat fast die Hälfte einen Zugang zur Musik, spielt Instrumente und singt. Das wächst sich mit dem Alter bei vielen wieder raus. Aber schon ein Besuch am Millerntor oder im Volksparkstadion, ein spontaner Fanchor beim Konzert der Lieblingsband oder ein Absacker in der Karaoke-Bar Thai Oase kann das glimmende Feuer des Spaßes am Gesang wieder anfachen. Die Bengelsstimmen sind der klingende Beweis: Eine feucht-fröhliche U-Bahn-Fahrt zum Kiez war 2019 die Initialzündung.
Chor Hamburg: Im April wurde die Liedertafel mit einem Festakt im Rathaus geehrt
Grund genug also für eine „Ode an die Freude“: Geleitet vom japanischen Dirigenten Kazuo Kanemaki werden sich in der ausverkauften Elbphilharmonie elf Männer-, Frauen- und gemischte Chöre um die Liedertafel, die Bengelsstimmen und das Albert Schweitzer Jugendorchester gruppieren: „Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein“. Und die Liedertafel hat viele Freundinnen und Freunde. Zu denen zählt auch Kultursenator Carsten Brosda, der die Liedertafel am 19. April mit einem Festakt im Rathaus ehrte: „Die Hamburger Liedertafel ist eine wahre Hamburgensie“, sagte er beim Senatsempfang im Großem Festsaal, die viel „für das kulturelle Erbe und das nationale Selbstbewusstsein dieses Landes“ geleistet habe.
Die Sänger der Hamburger Liedertafel waren seinerzeit – natürlich zusammen mit den Turnern – die Ersten, die die Nationalhymne sangen. Da darf man gespannt sein, wer sie am 3. Oktober 2023 in Hamburg singen wird: Die Hansestadt richtet nämlich in diesem Jahr die zentralen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit aus.
Hamburger Liedertafel von 1823 Sa 17.6., 11.00, Elbphilharmonie, ausverkauft; Informationen im Internet: www.hl1823.de