Hamburg. Der Schauspieler ist beim Hamburger Theater Festival zu erleben. Das sagt er über die Lockdown-Zeit und Regisseur Kušej.

Tobias Moretti ist einer der prägnantesten Charakterdarsteller im deutschsprachigen Theater. Der Burgschauspieler ist am 3.und 4. Juni in Martin Kušejs Inszenierung von Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ im Schauspielhaus zu sehen, die beim Hamburger Theater Festival gastiert.

Hamburger Abendblatt: Für Schauspieler gibt es ja nichts Schlimmeres, als nicht spielen zu können. Haben Sie sich in der Lockdown-Zeit auch wie in einer „Geschlossenen Gesellschaft“ gefühlt?

Tobias Moretti: Ja. Nur haben Schauspieler und Künstler, die wie ich in mehreren Bereichen tätig sind, währenddessen Filme drehen können. Die Arbeit am Theater definiert sich ja über eine Zuspitzung, über den Fokus. Und am Schluss muss eine Aufführung herauskommen. Das ist unsere Definition von Kunst. Wie sich jetzt herausstellt, ist eine höchst gefährliche Situation für die Kunst entstanden, weil die Menschen jetzt nach zwei Jahren eine merkwürdige Unsicherheit und Apathie verspüren.

Die Theater sind im Moment halbleer, und das im ganzen Sprachraum. Unmittelbar nach dem Lockdown waren sie noch voll. Aber es ist ein Spiegel der Zeit. Die Leute wollen nicht mehr zur Arbeit gehen, sondern im Homeoffice bleiben. Das ist aber nicht dasselbe. Wir müssen uns umstellen. Gerade in dieser gesellschaftlichen und politischen Irritation. Sonst wittern Politiker wohlmöglich eine Chance und streichen, streichen, streichen. Das wäre der Tod sowohl der Kunst als auch der Gesellschaft.

Hamburger Theater Festival: Kušej ein Feminist

Wie ist die Lage aktuell in der Theaterstadt Wien?

Moretti: Es gibt am Burgtheater einige Vorstellungen, die immer ausverkauft sind, aber das sind nicht alle. Für alle Theater ist das gerade klarerweise nur eine Momentaufnahme, wie gesagt. Aber es zeigt auch, - wie sich Theater in den letzten Jahren aus der eigenen Definition von darstellender Kunst in eine Verflachung, eine Anbiederung an die politisch korrekten medialen Erwartungen entwickelt hat. Gemeint war es als Anarchie, geworden ist es was anderes. Den „Othello“ zum Beispiel habe ich abgelehnt, weil die Übersetzung so trivial und bieder war, dass ich lieber schweren Herzens auf diese tolle Rolle verzichtet habe. Da waren Luk Perceval und Feridun Zaimoglu in ihrem „Othello“ vor 20 Jahren ganz woanders.

„Die Hölle sind die anderen“, dieser Sartre-Satz ist ja längst Allgemeingut geworden. Was ist für Sie der Reiz an diesem philosophischen Drama?

Moretti: Heute steht es für eine Gesellschaft in einer hermetischen Situation, die sich selbst über Konventionen definiert. Und auch wenn sie glaubt, sie habe sich darüber hinaus emanzipiert, bleibt sie darin stecken. Das Stück beschreibt eine Endzeit-Situation, in der jeder jeden beschuldigt. Es ist eine Grundaggression da. Und die Menschen können nicht mehr um die Ecke denken.

Das ist sehr heutig. Aber abgesehen von diesem politischen Überbau hat das Stück auch eine Zuordnung zum Unbegreiflichen der Unendlichkeit. Das Zeitmaß ist aufgehoben. Wenn ich über die Hölle nachdenke, denke ich immer in Kategorien von Fegefeuer, also von Zeitlichkeit. Zwar eine Zwischenhölle, aber endlich. Fast ein heutiges Verständnis von rationaler Zuordnung. Die unendliche Hölle aber ist die größte vorstellbare Entmenschlichung.

2011 gastierten Sie mit „Das weite Land“ beim Hamburger Theater Festival ebenfalls in der Regie von Martin Kušej. Mit ihm feierten Sie 2005 einen großen Erfolg mit „König Ottokars Glück und Ende“ bei den Salzburger Festspielen. Was macht die Zusammenarbeit mit ihm aus?

Moretti: Kušej ist ein Theatermacher, der schwer vergleichbar ist. Vielleicht wie Alfred Hrdlizka seinerzeit als Bildhauer. Kusej entwirft grobe Klötze, die er aber minutiös strukturiert zueinander stellt und in ein dramatisches Verhältnis bringt. Es hat immer mit dem Leben zu tun, ist immer ein archaischer, noch nicht kulturell sublimierter Zugang.

Ein intellektueller Metzger vielleicht, dabei aber ein Feminist, weil er gerade den weiblichen Figuren so viel Raum gibt, er lässt ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Sein Überbau ist ein intellektueller, aber die Arbeit selbst schrammt am Handwerk und an unserem Beruf entlang. Er ist gerade, was den Umgang mit Sprache betrifft, einer der großen Regisseure, die das können.

Morettis extreme Lebenswelten

Sie haben alles gespielt, was es im deutschsprachigen Theater zu spielen gibt. Ein Zitat von ihnen lautet, „ich will gewinnen, ich will vorne sein, ich will überholen, in vielen Situationen“. Auch auf der Bühne?

Moretti: Das Zitat stammt aus einer Zeit, in der ich mich mal ausgeklammert habe aus meiner Berufswelt und eine Entgrenzung im Motosport probiert habe. Ich habe Grenzgänge versucht. Mein Leben ist ein Konglomerat von mehr oder weniger extremen Teilen, die sich gegenseitig abwechselnd befruchten und bekämpfen. Aber so ist das eben. Um abhauen zu können, grenzenlos zu werden, brauche ich auch eine Kategorie von Zugehörigkeit, von Heimat. Ich wüsste sonst nicht, was Anarchie ist. Das bedeutet aber nicht, dass ich in einem Ensemble überholen oder gewinnen will, das ist keine künstlerische Kategorie.

Welche Rolle hat Sie mehr beschäftigt, der „Faust“ 2009 in der Inszenierung von Matthias Hartmann am Wiener Burgtheater oder der „Jedermann“, den Sie vier Jahre von 2017 bis 2020 bei den Salzburger Festspielen verkörpert haben?

Moretti: Ich fand den „Jedermann“ in seiner ganzen Historie wahnsinnig spannend und auch wichtig, habe ihn aber auch intensiv bearbeitet. Man versucht, in der Figur etwas Neues zu schaffen. Das gelingt natürlich nur teilweise. Es hing auch mit dem Regisseur zusammen, der zum Teil andere Intentionen hatte. Kušej wollte es gerne mit mir machen, aber er konnte zu dem Zeitpunkt leider nicht.

Zu der „Faust“-Inszenierung hat mich Matthias Hartmann eigentlich überredet, aber nicht nur. Ich habe das Grundsatzproblem des Faust nicht, mit einem göttlichen Prinzip in eine Konkurrenzsituation treten zu wollen. Auch nicht im Verstehen. Hartmann wollte diese Lebens-Empathie von mir haben, wie ich mich meiner verschiedenen Welten bemächtige. Aber letztlich hat das mit Faust, bei dem die Welt im Kopf stattfindet, wohl nur am Rande zu tun. Für Gert Voss war es die letzte Theaterarbeit, wir hatten eine komplizierte Probenzeit, umso mehr waren wir später beglückt, miteinander zu spielen.

Es gibt im Theater derzeit ja viele Debatten auch zu Fragen von Identität und wer wen eigentlich repräsentieren sollte. Glauben Sie an die Repräsentation einer Figur?

Moretti: Ja selbstverständlich. Ich glaube, dass diese Ambitionen einen Grund und auch eine Berechtigung haben, aber was den Vorgang des Theatermachens und -spielens betrifft, kürzen sie sich weg. Der vorauseilende Gehorsam, der Rollenidentität eine moralische Akzeptanz zu verleihen, greift zu kurz. In einer anderen Kunstform mag es gehen, aber im Theater hat es eine Form von Orientierungslosigkeit. Wenn ich eine Figur spiele, spiele ich eine Figur. Das Gegenüberstellen von Figuren, das ist Dramatik. Und das Drama stellt sich dem Leben und offenbart es in all seiner Höhe und seiner Niederträchtigkeit.

Welchen Rat würden Sie Schauspielstudierenden heute auf den Weg geben?

Moretti: Sie sollen sich ausprobieren und schauen, dass sie sich den Mut nicht nehmen lassen, weder im Bekenntnis, in einer zudefinierten Welt zu leben, noch in der Ambition, diese Definitionen aufzubrechen. Wenn ich zurückdenke, in den 80ern waren die Muster viel einfacher, die Feindbilder klar. Jetzt stagniert die globalisierte Welt in ihrem eigenen Höllenzirkus, es ist einfach alles unendlich komplexer. Das Theater hat da eine existentielle Funktion.

Sie spielen ja in vielen großen Kino- und TV-Filmen mit. Zuletzt sah man Sie in der Hauptrolle des Mehrteilers „Im Netz der Camorra“ (ZDF Mediathek). Nervt es Sie eigentlich, dass die meisten Angebote Krimis oder Thriller sind?

Moretti: Auch in diesem Genre sind die Figuren meistens Charakterstudien. „Im Netz der Camorra“, ist, obwohl es sich mit der archaischen Welt einer Mafia beschäftigt, nichts anderes als eine psychische Zuordnung von Figuren. Da geht es im Kern um eine Familie mit einer fast naiven Leichtigkeit des Glücks, für die sich dann mit einem Haar-Riss auf einmal Abgründe auftun. Plötzlich erleben Menschen eine Gefahr von außen, aber auch von innen, weil sie sich mit einem Mal nicht mehr kennen.

„Geschlossene Gesellschaft“ 3./4.6., jew. 19 Uhr, Deutsches Schauspielhaus in Hamburg, Kirchenallee 39, Restkarten unter T. 24 87 13; www.hamburgertheaterfestival.de