Hamburg. Frischer Lesestoff aus der Hansestadt: Gräfin Schönfeldt erinnert sich, Till Raether baut hoch. Das sind die Entdeckungen.
Ist Hamburg eine gute Stadt, um aus ihr heraus zu schreiben? Und worum geht es dann in den Büchern, den Romanen und Erzählungen Hamburger Autorinnen und Autoren, und merkt man ihnen gar das Hamburgische an?
Wir glauben: Ja – dies ist eine gute Stadt für so ziemlich alles, also warum nicht auch fürs Schreiben. Und: Nein, man merkt dem Text seinen Entstehungsort eher selten an – wobei man einem in Berlin aufgewachsenen Autor, der in Hamburg lebt und über Berlin schreibt, trotzdem einen Hamburger Zugang unterstellen kann. Zumal in einer Hamburger Zeitung.
Aber lesen Sie selbst, dieses literarische Quartett – alles Neuerscheinungen aus diesem Frühjahr – lohnt sich jedenfalls.
Alexander Rösler: „Der Mann hier unten“ (Literaturquickie-Verlag): Sinnsuche kann Wege nehmen, von denen man nicht unbedingt ahnt. Felicitas findet sich in der Barmbeker Kanalisation wieder, weil sie einem hageren Typen hinterherstieg.
Den nennt sie den „Fuchs“, und dieser Fuchs darf ihr Guru sein, natürlich als Mann und nicht als Tier – Hauptsache Voodoo. Clemens dagegen, ihr Ehemann, ein Künstler, steht irgendwann mit der Spraydose vor Neuköllner Hundekot. Er will ihn vergolden. Der Sinn also? Möglicherweise liegt er im „Aufruf zur Wahrnehmung der Alltagsästhetik“. So sagt es Clemens, der wie mindestens jeder mediokre Künstler weiß, dass Kunstobjekte dank quirlenden Sätze gleich eine ganz andere Aura haben.
Hamburger Roman: Nach dem Corona-Hit „Unter Kitteln“ der nächste Rösler-Roman
Alexander Röslers Roman „Der Mann hier unten“ (22 Euro) strahlt auf jeden Fall etwas aus. Nach dem Überraschungshit „Unter Kitteln“, der mitten in Corona von Ärzten und ihren Malaisen erzählte, ist dieser mit knapp 150 Seiten handliche Roman das nächste Buch des Hamburgers, das beim immens sympathischen Literaturquickie-Verlag erscheint. Und es glitzert in diesem Buch: Weil Röslers schmallippige Powerprosa für szenische Vignetten sorgt, die literarischen Schätzen gleichkommen.
Felicitas und Clemens, der sich für sein neues Kunstprojekt bei einem Hamburger Alternativgesamtkünstler und seiner Accessoire-Linie „Scheiße by Schamoni“ bedient haben könnte, richten in der brandenburgischen Einöde auf einem alten Hof ein Retreat her – als sei der Rückzugsort die einzige Möglichkeit für Menschen, die ins Alter driften. Von denen handelt der Roman, der nur wenig Sätze braucht, um die Leere, die diese Nicht-mehr-Jungen umgibt, auszustellen.
Hamburger Roman: Alexander Rösler ist ein erstaunlicher Autor, originell und humorvoll
Hinter ihnen liegt das Meiste schon, vor ihnen nur noch wenig. Da muss die Gegenwart mit Sinn aufgepumpt werden. Rolf ist so wohlhabend, dass Brandenburg nur Zwischenstation ist. Er darf dann irgendwann wieder nach Kreta. Da ist der dramatische Höhepunkt, des Fuchses bizarrer Voodoo-Auftritt im Retreat, gerade vorbei. Bizarr ist nicht, wie leicht sie sich von ihm dressieren lassen, die Wohlstandsmenschen. Bizarr sind auch die Brandenburger Rituale: „Der Fuchs trinkt ein Bier und noch eins und noch eins, das macht man hier so.“
Ja, der Fuchs wird gebraucht, als Deuter und Anleiter, nicht nur von Felicitas, deren alter Vater im Pflegeheim lebt und seiner Tochter Geld zuschießt, auch, um ihr eine Wahrheit nicht sagen zu müssen, ihre Herkunft betreffend. Er denkt intensiv über Suizid nach. Rösler ist ein erstaunlicher Autor, originell, humorvoll und interessiert an seinen Figuren. Es ist eine Kunst, Plastizität zu erreichen, wenn man möglichst minimal berechnete Satzfolgen einsetzt, um auf Menschen zu zoomen.
Sibyl Gräfin Schönfeldt: „Er und ich. Erinnerungen“ (Wallstein): Dies ist eine Liebesgeschichte ihrer Zeit. Geboren aus den Nazi-Jahren und dem, was die Deutschen mit Deutschland machten, als sie Zivilisationsschindern hinterherrannten. Aber es konnte diese Geschichte geben, weil der Hamburger Heinrich Schlepegrell die Ratschläge nicht weniger in den Wind schlug.
Väterlicherseits entstammte er einem niedersächsischen Geschlecht, seine Mutter war eine Nachfahrin von Moses Mendelssohn. In der Logik der Nazis war er also kein „Arier“. Aber anders als sein zehn Jahre älterer Bruder, der nach England ging, Hitler bekämpfte und nach dem Krieg niemals mehr in Deutschland lebte, blieb Schlepegrell.
Und konnte so in Hamburg die Journalistin Sybil Gräfin Schönfeldt kennenlernen, lieben lernen, heiraten. Die Gräfin hatte selbst einen wilden Hintergrund, wahrscheinlich besonders von heute aus betrachtet. Sie wurde als Tochter eines österreichischen Adeligen geboren und wuchs bei Verwandten in Hessen, Göttingen und Berlin auf. Kam über Wien nach Hamburg, wo sie unter anderem für die „Zeit“ arbeitete – und mit dem Kaufmann Schlepegrell eine Familie gründete.
Sie übersetzte, schrieb, unter anderem Benimm- und Kochbücher, und starb im vergangenen Jahr als hochgeschätzte Literaturvermittlerin im Alter von 95 Jahren in der Stadt, in der sie 70 Jahre gelebt hatte.
Schönfeldts Erinnerungen: Die Gräfin rückt ihren Mann in den Mittelpunkt
Nun erscheinen ihre Lebenserinnerungen, sie tragen den Titel „Er und ich“ (264 Seiten, 26 Euro). Es spricht unbedingt für Schönfeldt, muss unbedingt für sie sprechen, dass sie ihren Mann und dessen Familie in den Mittelpunkt dieses Memoirs rückt. Sie erzählt, wie ihr Mann in spe aus den Dolomiten zurück nach Hamburg kommt, sich durch die zerstörte Stadt fragt – wo geht’s denn zur Außenalster? Er findet das Haus, in dem er lebte, unzerstört vor. Und wie er, der nicht religiös war, sich spät noch für das Judentum interessierte. Wie sie gemeinsam den „englischen Bruder“ in Paris besuchten.
Schönfeldts Text ist ein akkurates, persönliches Zeitporträt – und auch ein Blick zurück, der auf Hamburg zielt und das, was es in den Jahren des Wiederaufbaus war. Schönfeldts Ankommen in ihrer neuen Heimat? Ging so vonstatten: „Ich hatte immer gehört, in Hamburg reden sie frühestens nach sieben Jahren richtig mit dir. Bei uns waren es vielleicht sieben Monate, und dann war Herbst, der Winterdom wurde aufgebaut, und einer der Freunde lud mich zum Dom ein.“
Hamburger Buch: Gräfin Schönfeldts Erinnerungen sind ausgesprochen lesenswert
Es ist ein Buch über Zusammengehörigkeit. „Was ist eine Familie? Ich hatte eine ohne Vater und Mutter. Heinrich hatte eine, die berühmt war. Ich hatte deutsche Vettern, die vierhundert oder fünfhundert Jahre lang in ihren Schlössern oder Herrenhäusern gelebt hatten, bis das Land DDR hieß und sie 1949 vertrieben wurden“, schreibt die Gräfin einmal. Später heißt es in diesem Buch, das Tiefgang und Klugheit besitzt, unmissverständlich, „dass er meine Heimat ist, er und seine Familie“.
Es war ein Jahrhundert voller Brüche, das Menschen auseinander- und zusammenbrachte. Davon handelt dieses sehr lesenswerte Buch, und von Menschen in komplizierten Lebensläufen. Ein Freund von Heinrich und Sibyl schmuggelt Zigaretten nach Deutschland, gegen die Überzeugungen des rechtschaffenen Heinrich. Ohne schlechtes Gewissen, warum auch: Die Nazis hatten seinen Eltern den Früchtegroßhandel weggenommen, „arisiert“; die Eltern entkamen nur durch Zufall dem Transport ins KZ. „Er, der Sohn, meinte seitdem, dem Staat, der zum Räuber und Verbrecher geworden war, nichts zu schulden“, schreibt Sibyl Gräfin Schönfeldt, die mit dieser Haltung sympathisierende Erzählerin.
Daniel Dubbe: „Am Meer“ (Moloko Print): Der Erzähler in diesem „Chapbook“ (etwa: „Volksbuch“), wie der Verlag seine Reihe nennt, ist in der Ägäis unterwegs. Er firmiert als „N.“; das könnte „Niemand“ heißen. Oder etwas ganz anderes. Er ist jedenfalls ein Alter ego des Hamburger Schriftstellers Daniel Dubbe, der mit seinem neuen Text „Am Meer“ eine Art Appendix von „Zwischenlandung. Vom Reisen“, seinem Roman von 2013, geschrieben hat. Dubbe, mittlerweile ist er 80 Jahre alt, hat mit seinen schmalen autobiografischen Büchern meisterhaft die vergangenen Jahrzehnte umrissen. Mit Beschreibungsprosa, die auf Details zoomt. So ist auch der neue Reisebericht geraten.
Er weckt Fernweh und verwebt Selbst- und Landschaftsbeobachtungen zu einer unwiderstehlichen Erzählung: „Heute ist Ostwind – anatolikó. Das Meer ist tiefblau, der Horizont ein klarer Strich, und die Nachbarinsel klar zu erkennen. Am Strand die beliebteste aller Persönlichkeiten: Niemand.“
Hamburger Autor Dubbe: „Am Meer“ ist allerbeste Urlaubslektüre
Der Erzähler saugt die maritime Atmosphäre auf, er liest (Ernaux, Handke, Miller und…. Dubbe!), er schreibt, er schläft viel besser als zu Hause – ozeanische Wellness halt. Über Betrachtungen zum Ukraine-Krieg – als dürfte man das Böse in diesem Idyll des einfachen Lebens nicht vergessen – mäandert er aber auch zu dem, was der Gegenpol zur Sommerfrische ist.
Das Elend des Alltags, „die sichere Erwartung der alten Leiden: Schlaflosigkeit, Erschöpfung, Ermattung schon am Morgen“. In einem Wort – Hamburg: „Er sah die Hauptstraße vor sich, die Hoheluftchaussee (was eigentlich ein schöner Name ist) viel befahren, viel belaufen von unattraktiven Passanten, alle allgemein gekleidet nach Sonderangeboten, die Modetrends imitierten, dein deprimierendes und rettungslos verlorenes Ensemble“. Oje, oje! „Am Meer“ ist allerbeste Urlaubslektüre, klare Sache.
Till Raether: „Die Architektin“ (btb): Diesen Roman sollte man am besten in der HafenCity lesen. Ein Lektüre-Ort mit Blick auf René Benkos Sahnegrundstück böte sich an, jenes, wo der erste Wolkenkratzer dieser Stadt gebaut werden soll. Noch steht der dort angepeilte 245-Meter-Turm nicht, die Augen reiben kann man sich dennoch schonmal.
Manche Gebäude sind ja lange vor dem eigentlichen Entstehen interessant, erst recht, wenn sie einen so griffigen Namen wie „Elbtower“ verpasst kriegen, erst recht, wenn jemand dahinter steht, dem das Wörtchen „schillernd“ zugeschrieben wird. Eine Vokabel, die bisweilen auch eine Vorstrafe wegen Korruption enthalten kann oder die Insolvenz einer berühmten Warenhauskette. Aber darum geht es ja gar nicht in dem Roman, der hier gelesen werden soll. Das läuft nur leise mit, wie Hintergrundmusik im Fahrstuhl, die einem dann doch verblüffend lang im Ohr bleibt.
Dabei spielt Till Raethers neuer Roman „Die Architektin“ (416 Seiten, 24 Euro) gar nicht in der Gegenwart, er spielt nicht einmal in Hamburg, sondern im West-Berlin der frühen 1970er-Jahre, und seine glamouröse Hauptfigur ist weiblich. Eine, die auf Empfängen der Bauwirtschaft zu süßen Wein nippt und in der Herrenrunde die Bemerkung „Hochhäuser sind phallisch“ mit dem Satz „Also, ich mag phallisch“ kommentiert. Eine, der Raether – der selbst schon lange in Hamburg lebt, aber in Berlin aufgewachsen ist und schon seinen letzten Roman „Treue Seelen“ dort spielen ließ – ein Bonmot verpasst, das seine Protagonistin treffend charakterisiert: „Männer, Geld und Häuser kann man nie genug haben.“
Till Raethers Roman: Politiker werden am Pool empfangen, die Presse vor der Kellersauna
Eigentlich gehört dieser Satz der einstigen Berliner Bauunternehmerin und Architektin Sigrid Kressmann-Zschach. Sie, die das Ku’damm-Karree entworfen und den berüchtigten Steglitzer Kreisel gebaut hat, ist das Vorbild für Raethers Romanfigur. Die so geachtete wie gefürchtete „schöne Sigi“ war in der 60er- und 70er-Jahren Teil der Berliner Gesellschaft und stets bestens über städtische Bauvorhaben informiert – unter anderem durch ihre kurze Ehe mit einem SPD-Bezirksbürgermeister und mehr als nur berufliche Kontakte in die Oberfinanzdirektion.
Wie genau solche Verbindungen sich abgespielt haben könnten (auch wenn das Großprojekt seiner fiktiven Baulöwin hier nicht „Kreisel“, sondern „Kegel“ heißt), spinnt nun Raether in seinem Roman gekonnt und mit Lust am Detail weiter. Politiker werden am Grunewalder Pool empfangen, die Presse (der Architektin stellt Raether in einem zweiten Handlungsstrang den unbedarften Jungreporter Otto entgegen) jovial vor der Kellersauna.
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Till Raether schließt in seine literarische Zeitkapsel vor allem das Porträt der Front- und Filzstadt in den 70er-Jahren ein und durchaus auch eine Liebeserklärung an den handgemachten Lokaljournalismus. Für Hamburger Leser dürfte jedoch auch die „Elbtower“-Fahrstuhlmusik etwa dann besonders vernehmlich klingen, wenn es um den Größenwahn scheinbar singulärer Bauprojekte und den vor allem gigantomanischen „Kegel“ geht: „Also, das höchste Haus der Stadt zu bauen, ist ja nicht gerade eine Idee“, hört Reporter Otto an einer Stelle von einer Kritikerin, die auch die kindische Schlichtheit des Vorhabens in klare Worte fasst: „Meins ist größer als deins.“