Helmut Schmidt hat sich in Bezug auf SPD-Kanzlerkandidaten stets zurückgehalten. Nun wirbt er für Steinbrück - auch wegen ihres Buchs.
Die Uhr zeigte 22.21 im Berliner Gasometer, als den Zuschauer endgültig das Gefühl beschlich, Helmut Schmidt trete noch einmal als Kanzlerkandidat an. Da referierte diese norddeutsche Stimme über "Adolf Nazi"- eine Beschreibung Hitlers, die aus dem Mund des Altkanzlers bestens vertraut ist. Da war sie wieder, die gefürchtete "Schmidt-Schnauze", das große rednerische Talent mit der Lust zur Ironie und dem Mut zu klaren Worten. Da schrumpfte selbst das kontinentale Problem Euro zu einem Teilkapitel in den Ausführungen eines großen Welterklärers.
+++Schmidt: "Der nächste Kanzler muss ein Hamburger sein"+++
+++Helmut Schmidt über den Tod und eigene Ängste+++
Das Seltsame am Talksonntagabend bei "Günther Jauch" war, dass gefühlt gleich zwei Schmidts neben dem Moderator Platz genommen hatten: Altkanzler Helmut Schmidt und der eventuelle Baldkanzler Peer Steinbrück. Viele Sozialdemokraten muss erfreut und viele Christdemokraten muss erschreckt haben (vielleicht gilt das auch umgekehrt), wie viel Schmidt da aus Steinbrück sprach - bis ins Detail wie "Adolf Nazi". Doch nicht nur der 64-jährige Hamburger erinnerte in Inhalt und Sprache an den 92-jährigen Hamburger, auch der Ältere zeigte sein Wohlgefallen an dem Jüngeren. "Ich st-imme Peer St-einbrück zu", stolperte er über den spitzen Stein und klatschte für besonders kluge Ausführungen seines früheren Referenten sogar Beifall.
+++Schmidt: Steinbrück ist der geeignete Mann+++
Der Altkanzler, der sich über die Enkel Willy Brandts - Scharping/Schröder/Engholm/Lafontaine - gern despektierlich äußerte,, präsentiert dem Wahlvolk plötzlich einen politischen Ziehsohn. Für einige Sozialdemokraten, die nach ihm ins Kanzleramt strebten, hatte Schmidt nur Verachtung; über Lafontaine sagte er 1990 gar, er habe die Wahlniederlage verdient. Für andere Parteifreunde wie Schröder hat er in Wahlzeiten aus Höflichkeit genickt. Für Peer Steinbrück trommelt er aus Überzeugung. "Er ist einer von denen, die wissen, worüber sie reden", sagt Schmidt - offenbar glücklich, den ersten Ökonomen seit Hans Matthöfer in seiner SPD zu wähnen. Der Partei beantwortet er zum Bergfest der Legislaturperiode ungefragt gleich auch die K-Frage. Die Sozialdemokraten, so Schmidt, seien gut beraten, Steinbrück als Kandidaten für des Amt des Bundeskanzlers zu nominieren. Via "Spiegel"-Titel tut er das dem Wahlvolk kund, mit den seit gestern berühmten drei Worten: "Er kann es."
Was die beiden zweifellos können - als Dritter im Bunde muss hier der Hoffmann-und-Campe-Geschäftsführer Günter Berg genannt werden -, ist PR, Vermarktung. Denn die ganze Aufregung hat einen guten Grund: Er ist 320 Seiten stark, kostet 24,99 Euro, erscheint bei Hoffmann und Campe und ist schon vor Auslieferung am Donnerstag auf Platz zwei bei Amazon gehüpft. Peer Steinbrück und Helmut Schmidt haben mit "Zug um Zug" nicht nur den Bestseller des Buchherbstes, sondern auch sich selbst in die Schlagzeilen geschrieben. Schon die Einschaltquote von Jauch kletterte mit 18,9 Prozent (5,61 Millionen Zuschauer) auf einen Bestwert, der "Spiegel" erreicht mit seinem sechsseitigen Interview sechs weitere Millionen Leser. Am Donnerstag erscheint parallel zum Buch der Vorabdruck in der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit". Danach reisen Steinbrück und Schmidt am Sonntag ins heimische Thalia-Theater und am Montag passenderweise ins Berliner Ensemble. Nach Dutzenden von Buchbesprechungen, Interviews und PR-Veranstaltungen dürfte bis in den letzten Zipfel der Republik die Botschaft gedrungen sein: "Peer kann Kanzler."
+++Ein Parteibuch, viele Bücher+++
Schmidts Wort hat Gewicht, nicht unbedingt in der SPD, aber im Land. Je länger die Jahre seiner Regierungszeit 1974 bis 1982 im Nebel der Vergangenheit verschwimmen, desto stärker verklären sich die Erinnerungen, fast so als habe Schmidt damals nicht ein von Terror und ersten Wirtschaftskrisen erschüttertes Westdeutschland, sondern den Garten Eden regiert. Wenn Schmidt spricht, schweigt das Wahlvolk andächtig. Der Altkanzler sagt viel Kluges, sagt es offen und verständlich ("Wir müssen jetzt mal die Kirche im Dorf lassen."). Vermutlich könnte er auch verkünden, die Erde sei eine Scheibe, und ein Großteil der Deutschen würde ihm recht geben. Bei aller intellektuellen Brillanz hat er sich die Sprache des Volkes bewahrt. Die Investmentbanker hätten fast die ganze Welt "in die Scheiße geritten", schimpft er. Einen Atemzug später referiert er kundig und kompetent über die Ursachen der Schuldenkrise. Die Menschen hängen, anders als zu seiner aktiven Zeit, geradezu an den Lippen des 92-Jährigen - sein Alter macht ihn für viele zum Politweisen. Schmidt gefällt's. Der Altkanzler, Staats- und "Privatmann" gibt gern kluge Ratschläge, etwa diesen: "Ein bisschen mehr Sachverstand in der Wirtschaftspolitik ist allen Parteien zu wünschen."
Beim Wunsch belässt er es nicht. Helmut Schmidt wirbt erstmals seit seinem Auszug aus dem Kanzleramt vor 29 Jahren offensiv für einen möglichen Kandidaten. Steinbrück und Schmidt haben sich gesucht - und gefunden. Sie verbindet weit mehr als Studium, SPD-Parteibuch oder die Liebe zum Schach.
Beide sind Jungs aus dem Hamburger Norden. Helmut Schmidt kam am 23. Dezember 1918 - wenige Wochen nach Ausrufung der Republik - zur Welt, wuchs in Barmbek auf und legte 1937 sein Abitur an der Lichtwarkschule ab, an der Grenze von Winterhude zur Uhlenhorst.
In diesem Stadtteil wuchs Peer Steinbrück auf, geboren am 10. Januar 1947. Das Abitur machte der Sohn eines Architekten 1968 am Wirtschaftsgymnasium am Lämmermarkt in Hohenfelde. Beide studierten Volkswirtschaft. Beide haben Banker in der Verwandtschaft - Steinbrücks Onkel Adelbert Delbrück war Gründer der Deutschen Bank, Schmidts Großvater ein jüdischer Privatbankier. Und beide hadern mit ihrer Partei, gefallen sich in der Abgrenzung, geben den bürgerlichen Sozialdemokraten. In der Öffentlichkeit sind sie beim hanseatischen "Sie" geblieben und sprechen sich mit Vornamen an.
Dabei kennen sie sich seit mehr als 30 Jahren. Zum ersten Mal trafen die beiden in Bonn aufeinander, wohin der junge Peer Steinbrück 1974 wechselte. Von Juni 1978 bis 1981 war er als Referent im Kanzleramt von Helmut Schmidt tätig. Auch nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition 1982 blieb Steinbrück in der Politik und stieg nach 1993 zum Landesminister auf - erst in Schleswig-Holstein, dann in Nordrhein-Westfalen. Das bevölkerungsreichste Bundesland regierte der Vater dreier Kinder von 2002 bis 2005, bis er dem CDU-Herausforderer Jürgen Rüttgers unterlag. Seine Karriere schien beendet, bis ihn die Große Koalition rief - der Wahlverlierer aus Düsseldorf wurde Finanzminister und steuerte die Nation durch die Finanzkrise. "Pflichtgefühl" habe ihn zum Wechsel nach Berlin bewogen, sagte Steinbrück damals - und bei aller Eitelkeit versteht er sich wie Helmut Schmidt als "leitender Angestellter der Bundesrepublik".
Westdeutschland leitete der Wahl-Langenhorner Schmidt von 1974 bis 1982, zuvor stand er mehreren Ministerien vor, darunter dem Bundesfinanzministerium. Der Diplom-Volkswirt zog 1953 erstmals in den Bundestag ein, dem er bis 1987 angehörte. Die Bonner Karriere unterbrach der Vater einer Tochter und eines kleinen Sohns, der 1945 kurz nach der Geburt starb, für vier prägende Jahre: 1961 bis 1965 leitete er das Innenressort der Freien und Hansestadt und wurde durch sein beherztes Eingreifen bei der verheerenden Sturmflut 1962 zum Helden. Und doch interessierte Schmidt nicht die "Kommunalpolitik", wie er Hamburger Vorgänge gern charakterisierte, sondern die nationale und internationale Politik, die er maßgeblich mitprägte.
"Ich bin ein alter Mann ohne Einfluss", sagte der Altkanzler bei den Feierlichkeiten zu seinem 90. Geburtstag. Eine Untertreibung, von der er sich gestern einmal mehr überzeugen konnte. Schmidt und Steinbrück, von einigen Beobachtern schon zu Schmidtbrück ("Spiegel") siamesisiert, beherrschen die Nachrichtenlage. Steinbrücks Gegner sind alarmiert: "Ich verstehe nicht, was dieser Egotrip zu diesem Zeitpunkt soll", tobt der Juso-Vorsitzende Sascha Vogt im "Tagesspiegel". "Kanzlerkandidaten werden nicht von Altkanzlern ausgerufen, sondern von der Partei bestimmt." Auch der Chef der SPD-Landesgruppe Nordrhein-Westfalen im Bundestag, Axel Schäfer, moserte in der "Rheinischen Post" mit: "Das erste Wort dazu hat nicht der ehemalige stellvertretende SPD-Vorsitzende, sondern der amtierende SPD-Vorsitzende."
Der Vorsitzende Sigmar Gabriel gibt sich tiefenentspannt und wiederholt das sozialdemokratische Mantra dieser Tage: Die SPD habe mehrere ausgezeichnete Kandidaten, die Debatte über die K-Frage aber sei natürlich verfrüht. Ansonsten regiert beredtes Schweigen. In Berlin kristallisiert sich in den Monaten der Euro-Krise immer stärker heraus, dass der nächste Kanzler nicht unbedingt ein Hamburger, auf jeden Fall aber ein Finanzexperte sein muss. In Zeiten, da die Euro-Krise bereits in Billioneneinheiten vermessen wird, wächst die Sehnsucht nach einem Erklärer und Entscheider. Steinbrück trauen viele zu, beides zu sein - gemeinsam mit der Kanzlerin zeigte er sich in der Finanzkrise 2008 als mutiger Macher, der die Sparguthaben aller Deutschen garantierte: Steinbrück und Merkel steuerten das Land gut durch die Krise, eine Einschätzung, die in der jetzigen Finanzkrise 2.0 nicht annähernd so verbreitet ist.
"Derzeit läuft alles auf ihn zu", heißt es bei Sozialdemokraten in der Hauptstadt, auch wenn die Parteilinke greint. Die Sehnsucht, mit dem "unechten Sozialdemokraten" die Macht zurückzuerobern, ist größer als der Wunsch, sich mit einem "echten Sozialdemokraten" in der Opposition einzurichten. Franz Müntefering brachte diese Denkweise 2004 derb auf den Punkt: "Opposition ist Scheiße."
Tektonisch lässt sich die Verschiebung Richtung Steinbrück schon in einigen Interviews spüren. Erst kürzlich sagte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz in der "Frankfurter Rundschau": Kandidat der SPD müsse jemand sein, "von dem jeder sich vorstellen kann, dass er Kanzler dieser Republik ist und seine Arbeit ordentlich macht. Und er muss eine Reputation haben, die dazu führt, dass viele sich auch seinetwegen für die SPD entscheiden." Er müsse nicht Wahlen gewonnen haben, sondern die Wahl gewinnen.
Dieser Verweis auf vergangene Wahl(miss)erfolge galt stets als Argument gegen Steinbrück, war er es doch, der 2005 das sozialdemokratische Stammland Nordrhein-Westfalen gegen Rüttgers verloren hatte. Auch dieses Argument räumte Schmidt am Sonntagabend bei Jauch ab - um 22.39 Uhr. "Ich habe auch keine Wahl gewonnen", sagte Schmidt knapp. Aber zwei Mal wiedergewählt war er dann doch worden.
Zieht also Steinbrück mit Schmidts Hilfe in den Kampf ums Kanzleramt? Fakt ist, dass Steinbrück schon zuvor gut im Rennen der sozialdemokratischen Troika mit Parteichef Sigmar Gabriel und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier lag. Im ARD-Deutschlandtrend rangiert Steinbrück knapp hinter Finanzminister Schäuble, aber vor seinen Parteifreunden und Kanzlerin Angela Merkel; bei der Forschungsgruppe Wahlen liegt er sogar auf Platz eins. Auch wenn Umfragen keine Wahlergebnisse sind, verstärken sie die Stimmung bei der SPD zugunsten des gebürtigen Hamburgers. Olaf Scholz brachte es im September auf den Punkt: "Spitzenkandidat wird der, von dem sich die Partei den größten Erfolg verspricht. Wer das ist, findet niemand in einem Hinterzimmer heraus. Das liegt dann in der Luft."
Seit Sonntag liegt es in der Luft.