Hamburg. Der Schriftsteller Uwe Timm über das Hamburg der Nachkriegszeit, den Rassenwahn der Nazis, seine Amerika-Liebe und die AfD.

Uwe Timmist ein Chronist der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein historisch sensibler Erzähler, dessen Romane die gesellschaftlichen Brüche beschreiben und was sie mit den Menschen machen. In seinem neuen Roman „Ikarien“ geht Timm, der 1940 in Hamburg geboren wurde, in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, in die Epoche des Inhumanen, in dem nicht nur der Antisemitismus dunkel blühte, sondern auch die Eugenik erfunden wurde. Auf einer weiteren Zeitebene spielt der Doku-Roman in den Monaten und Jahren, in denen Amerikaner mentalitätsmäßig beschädigte Deutsche zur Rechenschaft zogen und umerzogen. Timm ist einer der prominentesten Gäste des Harbour Front Literaturfestivals, das heute beginnt und bis zum 15. Oktober läuft.

In „Ikarien“, Ihrem neuen Roman, geht es um den Rassenwahn der Nazis, um die Biografie des Eugenik-Erfinders Alfred Ploetz und die Nachkriegszeit in Deutschland. Wie kamen Sie zu Ihrem Thema?

Uwe Timm: Auf das Problem des deutschen Rassendenkens stieß ich erstmals, als ich in den Siebzigerjahren an meinem Roman „Morenga“ arbeitete, in dem es um den Völkermord an den ­Herero durch deutsche Kolonialtruppen geht. Damals dachte ich erstmals über Alfred Ploetz nach. Der war übrigens der Großvater meiner Frau (der Übersetzerin Dagmar Ploetz, Anm. d. Red.), es gibt also auch eine biografische Verbindung. Wie wurde aus dem Sozialutopisten Ploetz ein fanatischer Eugeniker? Ich trug das Thema lange mit mir ­herum, fand aber keinen Hebel, um ihm literarisch angemessen beizukommen. Den methodischen Zugang, wie ich die verschiedenen Zeitebenen miteinander verknüpfe, fand ich dann mit der Figur des Wagner, des Ploetz-Famulus, der dem aus Deutschland stammenden amerikanischen Offizier Michael Hansen von seinen Jahren mit Ploetz ­berichtet.

Anders als Ploetz sind Wagner und Hansen fiktionale Figuren.

Timm: Das stimmt. Obwohl Michael Hansen eine Art Alter Ego meines älteren Bruders ist ...

... dem Sie in Ihrem Buch „Am Beispiel meines Bruders“ ein Denkmal setzten ...

Timm: Wie Michael Hansens Vater war auch unser Vater Tierpräparator und erhielt in den Dreißigerjahren das Angebot, nach Amerika zu gehen. Hätte er es ­angenommen, wäre mein Bruder nicht als SS-Soldat in den Krieg gezogen. Er hätte Michael Hansen sein können, der deutschstämmige amerikanische Soldat, der nach dem Krieg nach München kommt. Das ist das Schöne an der Literatur, dieser wunderbare Konjunktiv: Es könnte anders gewesen sein. So ist mein neues Buch auch so eine Art Kontrafraktur, ein Gegenentwurf zum Leben der Timm’schen Familie.

Sie waren 1945 fünf Jahre alt, wo haben Sie das Kriegsende erlebt?

Timm: Wir waren nach Coburg „evakuiert“ worden, einer unversehrten fränkischen Kleinstadt. Ich kann mich gut an den Einmarsch der Amerikaner erinnern. Von heute auf morgen veränderte sich das Verhalten der Erwachsenen. Das ­alles war ein verstörendes Erlebnis für ein kleines Kind und dennoch: eine ­Befreiung. Das habe ich damals gespürt, obwohl ich noch so jung war.

Auffallend ist, dass Sie sich in Ihrem Werk den Wendepunkten, Dramen und Sünden Deutschlands, dass Sie sich der Zeit­geschichte immer über die persönliche Ebene nähern. Auch, weil Ihr Leben im engeren oder weiteren Sinne mit jener Geschichte verknüpft ist. Fühlen Sie sich in besonderer Weise verbunden mit der deutschen ­Geschichte?

Timm: Ganz sicher. Sie ist Teil meiner Identität. Ich habe die Brüche miterlebt, 1945, 1968, 1989. Für mein Werk ist die biografische Verwurzelung wichtig, ich könnte nicht über irgendetwas schreiben, das nichts mit mir oder dem Land, in dem ich lebe, zu tun hat. Dass ich Benno Ohnesorg persönlich kannte (den Timm in „Der Freund und der Fremde“ literarisch würdigte, Anm. d. Red.) und auch zu Alfred Ploetz eine Verbindung besteht, ist sicher Zufall. Ob das ein Glück oder ein Unglück ist, sei dahingestellt. Ich vermute allerdings, dass es viele Familien gibt, die dunkle Bezüge zur Nazi-Zeit und diese verdrängt haben.

In „Ikarien“ beschreiben sie das kriegszerstörte Hamburg. Wie präsent ist Ihnen die direkte Nachkriegszeit?

Timm: Meine Figur Michael Hansen begibt sich auf Hamburg-Reise. Eppendorfer Weg, Osterstraße, Isebekkanal – das waren nicht nur die Orte seiner, sondern auch meiner Kindheit. Das in Trümmern liegende Hamburg, wie Hansen es wahrnimmt, ist mir im Gedächtnis geblieben. Wir kamen im Oktober 1945 aus einer intakten Kleinstadt an einen Ort der Zerstörung. Die Trümmer waren für uns Kinder eine Sensation. Man könnte eigentlich denken, dass die kaputten Stadtviertel eine furchtbare Sache ­waren. Waren sie aber auf gewisse Weise nicht. Kinder können sich solche ­Orte produktiv und anders als Erwachsene spielerisch aneignen. Es gab nichts Spannenderes, als dort zu spielen.

Und wie erinnern Sie den Anblick der ­Gewinner-Soldaten? Die Sympathieträger in „Ikarien“ sind eindeutig die Amerikaner, die „Befreier“.

Timm: Sympathieträger waren ie für mich in jederlei Hinsicht. Zu uns Kindern waren sie freundlich. Sie schenkten uns Kaugummi und Schokolade. Sie waren die lässigen Amis, die sich so stark von den immer brüllenden deutschen Soldaten unterschieden. Wo Deutsche einem mit der Ansage „Halt Dich gerade, Kinn an den Hemdkragen“ kamen, hingen Amerikaner entspannt in ihren Jeeps. Das waren komplett gegenteilige Verhaltensweisen. Später waren es nicht zufällig wir in den Kriegsjahren oder kurz ­danach Geborenen, die spätestens 1968 zur sogenannten „antiautoritären Generation“ wurden. Als Kind konnte ich meine Gefühle den Amerikanern gegenüber natürlich nicht so auf den Begriff bringen, aber tief und unbewusst in mir spürte ich, wie attraktiv ihr ziviler Habitus auf mich wirkte.

Es war, späteren politischen Einsichten zum Trotz, die Amerika-Liebe, die Ihre ­Generation auszeichnete.

Timm: Gegenüber meinem Vater musste ich die Hinwendung zu Musik, Film, Literatur und Jazz, zum „American Way of ­Life“ durchsetzen, das war nicht leicht.

Sie leben seit mehr als fünf Jahrzehnten in München, Ihre Romane spielten aber meist in Hamburg und viel auch in Berlin. In „Ikarien“ sind Sie nun auch literarisch in München, wo der Hauptteil der Handlung situiert ist, angekommen.

Timm: Ich bin nicht zufällig von Hamburg nach München gezogen. Mir gefiel es damals gut dort, München war ein Zentrum des alternativen Lebens und der Kommunen. Es waren auch die Schwabinger Krawalle, die eine Bewegung in Gang setzten, und es gab eine Kunstszene. Der Süden zog mich immer an, besonders Italien, das gilt auch für das ­unpreußische Laissez-faire. In Bayern lebte und wirkte übrigens auch Alfred Ploetz. In meinem Roman stelle ich ­implizit die Frage, wie das zusammengehören könnte: die Schönheit der bayerischen Landschaft und der völkische Gedanke, der Wahn, die Nazi-Taten. ­Direkte Antworten gibt der Roman nicht, das soll Literatur auch nicht.

Was bedeutet es für eine Gesellschaft wie die deutsche, wenn irgendwann kein Zeitzeuge mehr lebt, der über die NS-Zeit, Krieg, Stunde null und Neuaufbau aus eigener Anschauung berichten kann?

Timm: Es ist immer ein Bruch, wenn eine ­Generation abtritt. Laut dem Kulturwissenschaftler Jan Assmann gibt es neben dem kommunikativen Gedächtnis, das durch die Zeitzeugen und Erinnerungsträger mündlich gebildet wird, auch das kulturelle Gedächtnis. Dieses manifestiert sich besonders im Text, in der Literatur oder auch im Film. Wenn ich einen Text lese, glaube ich die Stimme des Schreibenden, also des Autors mitzuhören.

In der Regel ist es so, dass Menschen im ­Alter die Ego-Retrospektive für sich ent­decken und die Stationen ihrer Biografie gedanklich noch einmal abklappern. Fällt dieser Vorgang bei Ihnen aus, wo Sie doch Ihr Leben bereits so reichhaltig literarisch verarbeitet haben?

Timm: Ich denke, das ist tatsächlich so. Ich hatte nie das Bedürfnis, eine Autobiografie zu schreiben. Ich habe mein Leben in die literarische Form der Romane, Erzählungen und Novellen eingebettet. Bücher wie „Am Beispiel meines Bruders“ und „Der Freund und der Fremde“ drehten sich um andere Personen und waren doch auch biografische Versuche, in denen ich als Erzähler Uwe Timm mit seinem Leben eine Rolle spielte. Mit reinen Autobiografen, die sich selbst meist sehr ernst nehmen, kann ich wenig anfangen.

Wie sehr interessiert Sie das 50. Jubiläum der 68er-Revolte, die jetzt ansteht?

Als Jubiläum erst einmal nicht speziell, aber als Ereignis war die Revolte natürlich enorm wichtig. Wir haben an einem demokratischeren Deutschland gearbeitet, an einem neuen Verhältnis der Geschlechter zueinander, an einer neuen Pädagogik und an der Emanzipation von Minderheiten. Ich kann ehemalige Linke nicht verstehen, die unsere Errungenschaften von damals heute auf zynische Weise klein reden und schreiben.

Uwe Timm:
„Ikarien“,
Verlag Kiepenheuer
& Witsch,
512 S., 24 Euro
Uwe Timm: „Ikarien“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 512 S., 24 Euro © Kiepenheuer & Witsch

Sind Land und Gesellschaft das geworden, was Sie sich damals erträumt haben?

In vielerlei Hinsicht. Es ging vor allem auch darum, beim Verändern erst einmal mit sich selbst anzufangen. Sensibel zu werden für Abhängigkeitsverhältnisse und Ungerechtigkeiten, eine Sprache zu finden, wenn es um Dinge wie Unterdrückung geht. Andererseits stelle ich fest, dass das alte, eben auch auf Figuren wie Alfred Ploetz zurückgehende Denken wieder zurückkommt, man schaue auf Erscheinungen wie Pegida oder die AfD. Auch deshalb muss man nach den Gründen fragen.

Lesung beim Harbour Front Festival
19.9., 20 Uhr, Altonaer Theater,
Karten zu 16 Euro unter T. 30 30 98 98.