Hamburg. Bis zur Besinnungslosigkeit: Schauspielhaus-Chefin Karin Beier probt eine gewaltige Theater-Serie. Warum tut sie sich das an?

Kuschelig ging es eher nicht zu bei den alten Griechen: „Machtberauschte Politiker und widerständige Kinder, rigide Ordnungsfanatiker und entfesselte Rebellinnen, übermenschliche Zerstörungskräfte und gewalttätige Eliten“ – mit der Produktion „Anthropolis“ hat sich das Schauspielhaus ordentlich was vorgenommen. Die Bühne nimmt sich ein Beispiel an Netflix und bringt eine aufwendige Theater-Serie heraus.

Fünf Inszenierungen am Stück, fünf große Premieren im Zwei-Wochen-Rhythmus, alle inszeniert von der Hausherrin selbst, besetzt mit Bühnenstars wie Lina Beckmann, Devid Striesow, Michael Wittenborn, Julia Wieninger. Mit Texten von Aischylos, Sophokles, Euripides – und Roland Schimmelpfennig, der Teile der griechischen Mythologie exklusiv für das Schauspielhaus neu vertextet hat. Wir haben mit Intendantin und Regisseurin Karin Beier über ihr Marathon-Projekt gesprochen, über die Lust an der Überforderung, eingefrorene Proben und ihre eigene Anfälligkeit für exzessiven Serien-Konsum.

Theater Hamburg: Karin Beier muss „die Nerven behalten“

Hamburger Abendblatt: Sie proben seit mehr als einem Jahr für die Antiken-Serie „Anthropolis“ am Schauspielhaus – fünf Teile, fünf große Premieren innerhalb einer relativ kurzen Zeit. Alle von Ihnen inszeniert. Was ist das für ein logistischer Aufwand?

Karin Beier: Ein großer. Wir haben sogar schon in der vorletzten Saison damit begonnen, wir sind also inzwischen schon deutlich mehr als anderthalb Jahre dabei. Direkt im Anschluss an meine Premiere im Malersaal „Aus dem Leben“ im Dezember 2021 haben wir mit „Laios“ losgelegt. „Iokaste“ kam als nächstes dran, ebenfalls schon in der vorletzten Spielzeit. In der letzten Saison haben wir dann „Dionysos“, „Ödipus“ und „Antigone“ geprobt.

Weshalb Sie im letzten Jahr erstmals keine eigene Inszenierung am Schauspielhaus gezeigt haben?

Genau. Wir haben die einzelnen Teile so geprobt, dass sie ablauffertig waren. Wir sind also jeweils einmal durch das gesamte Stück gekommen, dann haben wir abgebrochen und sofort das nächste begonnen.

Karin Beier: „Der erste Probentag nach den Ferien war schon ein kleiner Schock“

Und das geht so einfach? Eine Inszenierung „anproben“ und dann einfrieren?

Das ist aus den Erfahrungen während der Corona-Zeit entstanden. Die hatten Auswirkungen sowohl auf die Arbeitsweise als auch auf inhaltliche Überlegungen. Diese Vollbremsung, die es damals in der Stadt gegeben hat, die Natur, die sich teilweise etwas erholen konnte, diese Rolle rückwärts, von der man nicht glaubte, dass sie möglich ist. All diese Erfahrungen sind in die Serie eingeflossen. Wir haben damals schon angefangen, uns mit den Themen „Stadt“ und „Zivilisationsgeschichte“ zu beschäftigen.

Und Sie haben gelernt, auf Halde zu proben.

Damals konnten ja viele Premieren gar nicht stattfinden – geprobt wurden die Stücke aber natürlich trotzdem, und zwar für die Zeit danach. Und so haben wir es jetzt bei „Anthropolis“ auch gemacht: eine Rohfassung fertiggestellt, sie abgespeichert und gewissermaßen die Festplatte beiseitegelegt. Ob das aufgeht, werden wir dann sehen … (lacht) Schlecht wäre, wenn wir später in den Endproben doch alles umschmeißen müssten, weil man sich nicht mehr erinnert. Anfangs fand ich es tatsächlich sehr mühselig, der erste Probentag nach den Ferien war schon ein kleiner Schock.

Sie haben den Ablauf doch vermutlich einmal auf Video aufgenommen – oder nicht?

Ich gucke meine Inszenierungen nicht auf Video! Niemals! Da krieg ich sofort schlechte Laune. Das kann ich nicht, das ist so anders, als es sich im Theaterraum anfühlt.

Karin Beier: „Er sagt permanent, dass alles böse enden wird – und dann endet es böse“

Aber wie holen Sie etwas „Aninszeniertes“ anderthalb Jahre später ohne solch eine Stütze wieder hoch, um es fertigzustellen?

Die Schauspielenden haben vieles abgespeichert, sie haben eine Art „Körpergedächtnis“. Julia Wieninger zum Beispiel ist eine enorm präzise Schauspielerin … Und natürlich führen wir ein Regiebuch. Und, na gut, die Regieassistierenden gucken dann vielleicht doch mal ins Video. Die Schauspieler eher nicht, die meisten mögen das ebenso wenig wie ich.

Intendantin Karin Beier ist seit fast zwei Jahren mit der Vorbereitung beschäftigt.
Intendantin Karin Beier ist seit fast zwei Jahren mit der Vorbereitung beschäftigt. © Thomas Aurin

Über Ihre Anfangszeit als Schauspielhaus-Intendantin vor zehn Jahren, als Sie auch mit den alten Griechen starteten, hieß es: „Hamburg wird mit einem Antiken-Marathon in die Besinnungslosigkeit gespielt.“ Dabei waren es damals „nur“ einmal bescheidene sechseinhalb Stunden „Die Rasenden“. Diesmal machen Sie gleich fünf Premieren im Zweiwochentakt hintereinander. Muss man sich immer wieder selbst übertreffen?

Eigentlich sind es ja ganz normale Premieren, Sie verfolgen nur eine gemeinsame Geschichte. Es gibt natürlich Figuren, die sich durch mehrere Stücke ziehen, Kreon zum Beispiel ist viermal dabei, Antigones Schwester Ismene kommt zweimal vor. Der Prophet Teiresias geht sogar durch alle Stücke, das ist wie ein Running Gag, er sagt permanent, dass alles böse enden wird – und dann endet es böse.

Also keine Besinnungslosigkeit? „Ganz normale Premieren“, Sie klingen ja noch entspannt.

Natürlich ist das ein Mammutprojekt, ein großer Kraftakt.

Der Schriftsteller und Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat dafür Teile der griechischen Mythologie neu geschrieben. Wie war diese Zusammenarbeit?

Wir haben sehr früh angefangen, eine grobe Struktur zu entwerfen. Roland hat vor allem Stücke geschrieben, die es noch nicht gab, wie „Laios“ und „Iokaste“. Von „Laios“ kennt man die Mythen, mit diesen kann man dann spielen und so eigene Schwerpunkte setzen. Und ich schätze es sehr an Roland Schimmelpfennig, dass wir auch während der Proben noch bei ihm anrufen konnten, um ihn zu bitten, Szenen dazuzuschreiben, wenn wir das Gefühl hatten, uns fehlt da was.

Karin Beier: „Was mich daran interessiert, ist dieser gewalttätige Akt“

Wie stellen Sie sicher, dass so ein Mammutprojekt nicht ausufert?

Diese Gefahr habe ich gar nicht empfunden. Wir mussten uns von Beginn an gut strukturieren. Wir konnten ohnehin nicht chronologisch proben, den vierten Teil haben wir vor dem dritten geprobt, den fünften Part nach dem zweiten … Es hatte auch immer mit Gründen der Verfügbarkeit zu tun.

Wird es – wie in Netflix-Serien – ein „Was bisher geschah“ geben? Die Story ist in der griechischen Mythologie ja nicht ganz unkompliziert.

Wir hatten das überlegt. Aber die Stücke funktionieren ja auch unabhängig voneinander. Wir beginnen mit einem Prolog, mit dem Gründungsmythos der Stadt Theben. Kadmos, der Bruder von Europa, wird darin von seinem Vater losgeschickt, um seine von Zeus geraubte Schwester zu finden. Ihm wird geweissagt, dass er keine Chance habe – dass er aber eine Stadt gründen solle. Er hetzt eine Kuh zu Tode, dort, wo diese Kuh zusammenbricht, soll er die Stadt gründen. Genau an dieser Stelle gibt es eine Quelle und einen Drachen. Den soll er ebenfalls töten und seine Zähne aussäen. Aus diesen Drachenzähnen wachsen Männer – die sich sofort gegenseitig umbringen. Was mich daran interessiert, ist dieser gewalttätige Akt. Schon bevor es eigentlich losgeht, gibt es diese Gewalt!

Und das gefällt Ihnen.

Urbanisation ist immer auch ein Gewaltakt gegen die Natur. Die Kuh ist ein Tier, der Drache ist ein Tierwesen. Ödipus tötet die Sphinx, noch ein Tierwesen –, und zwar mit den Worten „Der Mensch“. Der Stoff ist unheimlich modern, es hat ganz viel mit unserer Welt zu tun.

Die große Bühne des Deutsches Schauspielhauses in Hamburg ist Schauplatz für Mord und Intrigen und kuriose Familienangelegenheiten – jedenfalls in „Dionysos“, „Antigone“, „Ödipus“ und den weiteren Serien-Folgen.
Die große Bühne des Deutsches Schauspielhauses in Hamburg ist Schauplatz für Mord und Intrigen und kuriose Familienangelegenheiten – jedenfalls in „Dionysos“, „Antigone“, „Ödipus“ und den weiteren Serien-Folgen. © Thomas Aurin

Was bedeutet Ihre Antiken-Serie für den Rest des Spielplans? Viele andere Inszenierungen wird es in dieser Spielzeit am Schauspielhaus nicht geben.

So ist es, mit der Serie decken wir schon fünf Premieren im großen Haus ab. Anfangs hatten wir überlegt, das Projekt mit fünf verschiedenen Regisseuren zu machen, aber wir wollten es dann doch in einem gemeinsamen ästhetischen Kontext haben. Deshalb gibt es auch nur den einen Autor und ein künstlerisches Team.

Karin Beier: „In meinem elften Jahr hier am Deutschen Schauspielhaus kann ich mir das mal erlauben“

Und gab es mal den Gedanken, dass die Saison zu sehr auf Sie persönlich zentriert sein könnte?

Klar hab ich da mal drüber nachgedacht. Aber in meinem elften Jahr hier am Deutschen Schauspielhaus kann ich mir so ein Projekt mal erlauben, glaube ich.

Schon vor der ersten Premiere haben Sie allerdings rigoros gesagt, dass Sie so etwas keinesfalls noch einmal machen werden.

Hab ich?

Auf der Spielzeitpressekonferenz im Frühsommer.

Ach, das war im Mai, da war ich schon sehr erschöpft. Jetzt waren gerade Sommerferien, jetzt geht’s wieder! (lacht) Ich bin wirklich erholt. Dadurch, dass ich alles schon „aninszeniert“ habe, vieles schon vorbereitet war, hatte ich das erste Mal seit Jahren wirklich Sommerferien. Sonst muss ich im Urlaub immer schon die nächste Produktion vorbereiten. Ich muss in den Ferien immer das tun, was ich besonders ungern mache: mir am Schreibtisch etwas ausdenken. Diesmal habe ich in den Sommerferien keinen Schlag getan. Nichts!

Elmar Goerden hat mal gesagt: Karin Beier ernährt sich durch Kraftvergeudung

Gehen Sie sonst im Grunde ganz gern an die eigenen Grenzen? Der Regisseur Elmar Goerden hat mal über Sie gesagt: Karin Beier ernährt sich durch Kraftvergeudung.

Ich wollte mit „Anthropolis“ nicht an meine Grenzen gehen – sondern wir wollten den Zuschauern nach zehn Jahren etwas Besonderes bieten. Die „Antigone“ in so einer Erschöpfung zu proben wie im Frühsommer, das war schon fast grenzüberschreitend. Aber es ist nichts, was ich mir explizit suche. Ich will nicht gucken, was ich aushalte. Ich schlittere aus unterschiedlichen Gründen immer wieder in solche Situationen. Jetzt hoffe ich, dass ich die Nerven behalte für die vielen Endproben. Und dass ich genug Schlaf kriege. Darauf muss ich achten.

An mehreren Wochenenden kann das Publikum später alle Teile hintereinander gucken, ein echter Theatermarathon. Machen Sie so etwas zu Hause eigentlich auch? Sind Sie der Typ fürs „Binge-Watching“, also das exzessive Dauergucken einer Serie?

Aber natürlich! Und wie! Ich bin total anfällig. Ich gucke auch viel Trash.

Ach. Was denn so?

Neulich habe ich mal mit meiner Tochter eine koreanische Datingshow geguckt, das war schon sehr lustig. Aber ich habe zum Beispiel auch „Succession“ geguckt. Das fand ich echt super. Schauspielerisch unfassbar gut. Sarah Snook als Tochter Siobhan hat drei Sätze und macht 80 Sachen im Gesicht, irre. Brian Cox, der den Patriarchen spielt, habe ich sogar mal persönlich kennengelernt. Während meines Anglistikstudiums habe ich ihn mal in Stratford als Shakespeares „Titus Andronicus“ gesehen, eine ziemlich berühmte Aufführung. Ich habe damals als Studentin in der freien Szene „Macbeth“ inszeniert, den er auch schon gespielt hatte, und ihn gefragt, ob ich ihn treffen könne, um mit ihm über Macbeth zu sprechen. Hat er tatsächlich gemacht. Und ich war schockverliebt.