Hamburg. Intendantin Karin Beier widmet sich im Malersaal der Sterbehilfe – ein kluger, tabuloser und vor allem empathischer Abend.
„Sie sind heute hier, weil Sie sterben wollen, richtig?“ Uff. Die Frage gehört zum Prozess des Sterbebegleiters. Sie ist, gewissermaßen, Routine und geht doch direkt unter die Haut. Marcus John stellt sie an diesem Abend nicht nur einmal, und er schaut dabei frontal ins Publikum. Eine Antwort erwartet er nicht, aber verhalten muss man sich im Malersaal des Schauspielhauses unweigerlich.
Denn das Stück, das die Intendantin Karin Beier hier auf der Grundlage von tatsächlich mit realen Menschen geführten Interviews entwickelt hat, erzählt – und so lautet auch der Titel des Projekts – „Aus dem Leben“. Eine geistreiche Doppelbedeutung. Denn nicht allein mitten aus dem Leben wird hier geplaudert, sondern von dessen Ende berichtet, von dem Zeitpunkt, an dem ein Mensch „aus dem Leben“ scheidet. Selbstbestimmt.
Premiere im Schauspielhaus geht nicht spurlos am Zuschauer vorbei
Nun erscheint es zunächst nicht eben vergnügungssteuerpflichtig, sich ausgerechnet in einer Pandemie, in der einem ohnehin jeden Tag Todeszahlen und „Hospitalisierungsraten“ um die Ohren fliegen, mit dem Thema Sterbehilfe und Suizid auseinanderzusetzen. Zu überlegen, welches Vokabular die eigene Haltung am ehesten fasst: Freitod? Selbstmord? Tod auf Bestellung? Oder, wie Marcus John es nennt, „Sterbevorgang“?
Was nüchtern klingt, ist es ganz und gar nicht, so dicht sind diese Texte, so fein geben die Spieler ihnen Gestalt und Gefühl und Tiefe. „Das macht etwas mit einem, so ein Sterbevorgang“, gesteht dieser Mann, der trotzdem Sterbebeistand bleibt. Und auch am Zuschauer geht diese zarte, erschütternde, berührend wahrhaftige Inszenierung nicht spurlos vorbei.
Umgang mit Sterbenden: Figur der Pflegerin berührt zentrale Frage
Man muss schon einige Male heftig schlucken, wenn Julia Wieninger – vielmehr: ihre Figur, die wie die anderen aber namenlos bleibt – von sterbenden Kindern erzählt, wenn ein junger Mann (Maximilian Scheidt) es aushalten muss, dass seine Eltern gemeinsam in den Tod gehen wollen, obwohl nur einer von beiden unheilbar krank ist. Wenn ein todgeweihter Vater (Carlo Ljubek) begreift, dass er seinen Sohn nicht wird aufwachsen sehen. Oder wenn eine Pflegerin (Lina Beckmann) lächelnd sagt: „Ich hab’ Glück“, weil sie in einem Hospiz arbeiten darf.
Der Tod ist dort zwar allgegenwärtig, aber es gibt auch noch Zeit, um den „Gästen“ ihre letzten Wünsche zu erfüllen. Sterbehilfe ausgerechnet mit der Menschenwürde zu begründen, hält sie für falsch: „Die Würde des Menschen hängt doch nicht davon ab, ob man sich selbst den Hintern abwischen kann.“
Die Figur der Pflegerin, die Lina Beckmann mit großer Warmherzigkeit spielt, berührt damit eine zentrale Frage der Gesellschaft: danach, wie sie mit ihren Sterbenden umgeht. In einem Klima, in dem die „Angst vor schlechter Pflege“ womöglich die Angst vor dem Tod übertrifft. Auf der Bühne, aber natürlich auch vor dem Theater: in einer Gegenwart, in der Pflegekräfte Brandbriefe wegen Überlastung und Arbeitsdruck schreiben müssen. „Es ist wirklich eine Situation zum Heulen“, bemerkt Julia Wieninger, die ohnehin eine wohltuende Kraft zur Empörung mitbringt.
Bei „Aus dem Leben“ geht es zu wie auf einer guten Beerdigung
Gegen die Schwere setzt Amber Vandenhoek ein heftig marthalerndes Bühnenbild. Einen beige-braunen Mehrzwecksaal mit Teppich, pragmatischem Gestühl und den schlichtest denkbaren Konferenzkaffeetassen. Der Luftballonbogen der letzten Hochzeit ist noch nicht abgebaut, permanent steuert jemand etwas zum Büffet bei: einen Käse-Igel am Anfang, später Torten, Braten, Fasane. Hinter Landschaftsgemälden verbergen sich Grablichter und Choräle.
Im Grunde geht es bei „Aus dem Leben“ zu wie auf einer guten Beerdigung: sehr traurig, anrührend, verlegen, aber doch auch schräg und unwirklich und, ja, bisweilen eben auch zum Lachen. Das alles gelingt, ohne pietätlos oder makaber zu sein.
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Ein Abend über Krankheit und Tod, der Zuneigung zum Leben vermittelt
Karin Beier, Brigitte Venator, die die Interviews führte, Julian Pörksen, der das Material für die Bühne bearbeitet hat, und einem spürbar empathischen Ensemble glückt ein Abend über Krankheit und Tod, der eine gewaltige Zuneigung zum Leben und zu den Menschen vermittelt. Und auch, wenn moralische Zweifel, Schmerz und die Trauer und Ohnmacht der Hinterbliebenen nicht verschwiegen werden, ist die Position recht deutlich: Diese Produktion, die Suizidwilligen und Angehörigen ebenso eine Stimme gibt wie Palliativpflegekräften und Sterbebegleitern, vertritt das Recht auf die eigene Entscheidung. Vehement. Wobei das Abspielen eines Originaltelefonats, das eine sterbewillige Frau einen Tag vor ihrem selbstgewählten Todeszeitpunkt führte, schon ein besonders drastisches Mittel ist.
„Es endet halt doch alles im Tod“, heißt es zum Auftakt. Das allerdings will Karin Beier dann offenbar nicht so stehen lassen. Sie muss ihr Publikum ja wieder da raus schicken, in die Nacht, in die Kälte, in die verdammte Pandemie. Und sie gibt ihm eine Art Teufelsaustreibung mit auf den Weg, ein mexikanisches Totenfest, einen überdrehten, ausgelassenen Lebens-Booster aus Pauken und Trompeten. Und tatsächlich: Es hilft.
„Aus dem Leben“ im Malersaal des Schauspielhauses, wieder am 23.12., 9.1., 10.1. jew. 19.30 Uhr, Karten unter T. 248713