In der Elbphilharmonie stand das Werk von Musical-Komponist Andrew Lloyd Webber im Mittelpunkt. Ein Abend, der zu Tränen rührte.

„Passen Sie auf, dass Sie nicht weggeblasen werden“, warnt Christian Kuhnt jene im Großen Saal der Elbphilharmonie, die vor den Orgelpfeifen sitzen. Und tatsächlich hat der Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals nicht ganz unrecht: Als die markante Ouvertüre von „Phantom der Oper“ mit theatralem Wumms aus der Orgel ertönt, müssen einige der dort Platzierten spontan lachen ob der offensichtlich durchdringenden körperlichen Erfahrung.

Elbphilharmonie: Riesiger Jubel – Zugabe gleich zweimal gespielt

Das Festival hatte für sein letztes Konzert in der Elbphilharmonie für 2023 zur „Andrew Lloyd Webber Nacht“ geladen – also zur Verneigung vor jenem britischen Komponisten, der sich für große Musical-Melodien von „Cats“ bis „Starlight Express“ verantwortlich zeichnet. Doch wer an diesem Abend ausschließlich schmissig Eingängiges erwartet, wird vielfältig überrascht.

Das Gastspiel des WDR Funkhausorchesters beginnt mit dem Requiem, das Lloyd Webber 1984 für seinen zwei Jahre zuvor gestorbenen Vater William komponiert hatte. Seine Interpretation der Totenmesse wurde damals mit einem Grammy als „Beste klassische zeitgenössische Komposition“ ausgezeichnet.

Dirigent Wayne Marshall vereint Coolness und Ernsthaftigkeit

Allein der Auftakt mit dem Kyrie folgt einer feinen Dramaturgie. Da durchbrechen zunächst Quer- und Piccoloflöte die Dunkelheit, fortgeführt von den beiden Knabensopranen Roman Meier-Wagner und David Ghambaryan in ätherischer Leichtigkeit. Bis schließlich der WDR Rundfunkchor einsetzt und das melancholische Motiv ausweitet. Mit Reibung und spannungsgeladen.

Wayne Marshall baut die Strahlkraft und emotionale Wucht des Klangkörpers ungemein empathisch und zugleich stringent auf. Wie er ohnehin in seinem Wirken höchst charismatisch Coolness und Ernsthaftigkeit vereint.

Elbphilharmonie: Tenor Martin Muehle strebt eindringlich himmelwärts

Lloyd Webber setzt in seinem Requiem nicht auf Erbauung auf Knopfdruck. In einer knackigen Dreiviertelstunde lotet er vielmehr die Zustände von Trauer und Trost, vom Sein und Vergehen komplex aus. Vom dissonanten Tumult bis zum marschierenden Drive. Besonders vibrierend und überwältigend: das Offertorium, bei dem Bläser und Pauken starke Akzente setzen, während Chor und Orchester teils in monumentaler Zwiesprache miteinander zu ringen scheinen.

Tenor Martin Muehle strebt in seinem „Hosanna“ eindringlich himmelwärts, bald jubilierend verstärkt vom Chor, während das Orchester in einen Groove einstimmt, der nahezu die Energie von Funk und Gospel besitzt und somit hübsch auf den popkulturellen Appeal von Lloyd Webbers Schaffen verweist.

Auch ein Stück von Andrew Lloyd Webbers Vater William erklingt

Ersten heftigen Zwischenapplaus gibt es nach dem transparent schwebenden „Pie Jesu‟ von Sopranistin Chen Reiss. In den 1980er-Jahren, interpretiert von Lloyd Webbers damaliger zweiter Ehefrau Sarah Brightman, hatte sich das Stück zu einer Art Hit entwickelt. Und mit dem immer leiser werdenden „Perpetua‟ der Knabensoprane findet das „Requiem“ schließlich seinen andächtigen Ausklang.

Ein schöner Einfall ist es, dass nach der Pause mit „Aurora“ ein kurzes Stück von William Lloyd Webber auf dem Programm steht. Geschrieben 1948, aber als Aufnahme erst 1986 veröffentlicht. Seine Ode an die Göttin des anbrechenden Tages weht wie aus einer anderen Ära herüber. Ein Hauch von altem Hollywood. Schwelgen und Schönheit. Mit einer Flötenmelodie, die einem sanft die Tränen in die Augen treibt. Und mit wunderbar erzählerischen Streichern.

Den Gänsehaut-Klassiker „Don’t Cry For Me Argentina“ gibt es doppelt

Schließlich: die „Symphonic Suite“ aus „Phantom der Oper“, jenem 1986 uraufgeführten Musical, das ab 1990 auch in der Hamburger Neuen Flora gezeigt wurde und Millionen Menschen begeisterte. Rein in der orchestralen Darbietung entfesseln sich noch einmal sehr schön fokussiert das Pathos sowie die Nuancen dieser Musik – von den filigranen Flöten bis zum pompösen Bombast. Wayne Marshall und sein Orchester haben sichtlich und hörbar Spaß daran, die Dynamik dieser Erfolgsnummer auszuloten. Ebenso wie bei der Zugabe, dem Gänsehaut-Klassiker „Don’t Cry For Me Argentina“ aus „Evita“, das aufgrund von minutenlangem Applaus direkt zweimal gespielt wird.

Zwischendrin tritt Wayne Marshall überraschend an die Orgel und legt eine furiose „Evita‟-Improvisation hin, in die er auch das Motiv aus „Phantom der Oper“ einbaut. In einem intensiven und zugleich lässigen Mix aus Jazz und Avantgarde, Hommage und Dekonstruktion spielt er sich in schönste Ekstase, bei der jeder Ton und jede Geste vor Können und Spaß strotzen. Ganz nach dem Motto: Wenn ich schon mal hier bin, möchte ich dringend auch selbst ans Instrument. Ein absoluter Höhepunkt eines so erstklassigen wie abwechslungsreichen Konzertabends.