Hamburg. Auf ihrem Jubiläumskonzert spielten die Shanty-Rocker auf dem Großmarkt. Ihre politischen Aussagen waren deutlich – gute Sache.
Für das Programm dieser schleswig-holsteinischen Folklore-Unternehmung war die Frische perfekt, die am Sonnabendabend in Hamburg aufzog. Die Schwüle des Tages war mit einem Mal weggeblasen. Und es war ja eh Wind, Wolken, Wetter. Maritimes Ambiente also, es war angerichtet für Santiano, die Schlagerrocker aus dem Norden der Welt.
Ja, Unterhaltungsmusik der leichtesten Art! Warum denn auch nicht. Der NDR verteilte, das war beinah willkommen auf dem langen Marsch zum ästhetisch unverändert schroffen Konzertgelände, Zettel mit einem Schlager-Gewinnspiel. Das passte. Man hatte sich vorher in der Großmarkt-Öde aber erst mal verlaufen und war, wie andere auch, im Herdentrieb der Harry-Potter-Kundschaft hinterhergetapert.
Es blieb dann die Frage, von wem die geleerten Sektflaschen stammten, die das Straßenbild zierten. Von Potter-Fans, die sich in Stimmung zauberten, tatsächlich? Von Santiano-Anhängern doch sicher nicht, die trinken keinen Schaumwein. Wir tippen lieber mal, dass das Leergut von denen stammte, die am Abend vorher bei Dieter Thomas Kuhn waren.
Santiano in Hamburg: Die Jubiläumstour feiert die mehr als zehnjährige Bandgeschichte
Zurück zu den Musikern von Santiano, die seit mehr als einem Jahrzehnt so gut auf Kurs liegen. Nummer-eins-Alben, erfolgreiche Tourneen (mit vorübergehender pandemischer Ausbremsung) – „10 Jahre“, wie die Jubiläumstour der 2011 gegründeten Band pragmatisch betitelt ist, bieten extrem viel Stoff, um den nautischen Imperativ sehr entschieden in die Gehörgänge des Publikums zu zimmern.
Vorher hatten die Plattdeutsch-Verfechter Yared Dibaba & die Schlickrutscher („Wir mach’n jetz’ ma’ so’n lütt’n Flashmob mit Bums und Erotik“) schon folkloristische Vorarbeit mit Tanzeinlagen geleistet. Dann cruiste der Santiano-Segler ein, und Hauptsänger Björn Both hisste gleich mal auf Vollmast: „So weit die See und der Wind uns trägt/Segel hoch/Volle Fahrt Santiano/Gradeaus wenn das Meer uns ruft/Fahren wir raus hinein ins Abendrot.“
Das mit dem Abendrot war ausbaufähig, im Gegenteil war es ja ziemlich schwarzes Gewölk, das sich zunächst am Himmel unheilverkündend zeigte. Und man könnte jetzt sicher versuchen, ganz ohne Seefahrer-Metaphorik auszukommen, wenn man die Erfahrung eines Santiano-Konzerts beschreibt. Aber schwer tautologisch war an diesem Abend sowieso alles, warum nicht einfach mitmachen und sprachlich im Kielwasser mittuckern.
Open Air am Großmarkt: Santiano war „Frei wie der Wind“
Jenes Kielwasser, jenem Wellengang, das und der sich den Anwesenden auf der Leinwand offenbarte. Dort verdoppelten visuelle Eindrücke den ozeanischen Effekt. Die Shanty-Rocker wissen, was das Publikum erwartet. Es wäre übrigens durchaus noch Platz für mehr Leute gewesen auf dem Großmarkt.
An Bord war dennoch beste Stimmung. Trotz Abendkühle trug manch einer nur T-Shirt. Weil kernige Seeleute keinen Schnupfen bekommen. In diesem Fall auch nicht Skorbut, es gab ja nahrhaftes Holsten, Krakauer und Brathering. „Frei wie der Wind“ hieß der zweite Song an diesem Abend.
Sagen wir es gleich: Santiano ist am besten, wenn es im Uptempo unterwegs ist, wenn die Folkfiddle fröhlich fiept, als gäbe es keinen Morgen – wie in „Salz auf unserer Haut“. Menschen, die es wissen müssen, gaben einem mit auf den Weg, man überlasse sich der Seefahrer-Romantik sowieso irgendwann sowieso wehrlos, Alkohol könne aber auch nicht schaden. Man blieb dennoch nüchtern, auch wenn das Personal am Bierausschank mit Motto-T-Shirts („Halt’s Maul, sauf“, „Weniger heulen, mehr saufen“) explizite Verzehrbefehle gab.
Santiano-Konzert: Björn Both erklärte seinen Begriff der Freiheit
Von der Bühne kamen konziliantere Töne. Nein, mehr noch – es gab die genau richtigen Ansagen, zwar noch verhältnismäßig allgemein gehalten. Aber es kann ja nie schaden, wenn ein charismatischer Entertainer wie Björn Both Begriffe wie „Heimat“ und „Freiheit“ nicht für, sondern gegen die AfD in Stellung brachte. So verstand man den Mann jedenfalls, und so war es auch gemeint – das Santiano-Schiff ist nicht braun gestrichen.
- Santiano spielte – und dann schneite es noch in Bad Segeberg
- Santiano in Segeberg – coronageschwächt und doch voll da
- „Für so was wurde man in Hamburg eigentlich noch erschossen“
Später verdeutlichte Both dann noch, dass die Seefahrtshymnen. so unwahrscheinlich das klingen mag, doch tatsächlich auch der Soundtrack der Letzten Generation sein könnten. Wie sollte man in diesen Tagen nicht an die Klimakämpfer denken, wenn einer wie Both („Wir müssen für die Erde Verantwortung übernehmen“) unmissverständlich die Fragen der Gegenwart stellte: „Wer wollen wir später gewesen sein? Die, die für ihre Kinder das Ruder herumgerissen haben?“ Er dürfte seine Zweifel daran haben, dass das wirklich so ist.
Santiano: Hervorragende Musiker, die den Shanty neu denken
Auf dem Großmarkt zeigte das Quintett, zu dem neben Both Hans-Timm Hinrichsen, Axel Stosberg, Pete Sage und Andreas Fahnert gehören, Haltung – klar, dass es Applaus für die Ansagen gab. Wobei in Sachen Erdenrettung solch ein Applaus bislang ja nur gratis gegeben wird. Boths „Hamburchchch, wir hör’n euch nicht“ meinte aber wohl vielmehr den eher leisen Chorgesang des Publikums bei Gassenhauern wie „Gott muss ein Seemann sein“.
Der Santiano-Sound wird, das wurde beim Hamburger Konzert einmal mehr deutlich, von hervorragenden Musikern gemacht. Die Romantisierung von Seegang und Fernweh funktionierte auch live für alle Anwesenden bestens. Santiano ist die Boyband mit Buddel, ist eine Vereinigung von Shanty-Neudenkern, die die Angst vom Kaventsmann des Spotts nie kannten.
Nur böse Menschen sagen, die Musiker seien Leichtmatrosen auf ewigem Landgang, denen immer nur derselbe Vers einfällt. Wie Both einmal zugab: Gibt wohl niemanden, der den Begriff der „Freiheit“ zuletzt so oft im Munde führte wie Santiano.
Die schwerfälligeren Santiano-Stücke sind zu bemüht
Fernweh und Heimat, was auch immer, am Ende geht es und ging es auf dem Großmarkt um schmissige Songs und, nun ja, voll gesetzte Segel der Sehnsucht. Ein Lied wie „Könnt ihr mich hören“ ist natürlich raunender Kappes, Verse wie „Ich schenke euch Unsterblichkeit“ durch Raum und Zeit“ bemühte Transzendenz. Wenn Santiano-Stücke schwerfällig Bedeutung daherstampfen, wenn sie so teutonisch dunkel dräuen, sehnt man den nächsten Fiddle-Knaller herbei.
Es gab ein paar Showeffekte. Ein Schneekanönchen, Rammstein-Feuerschübe. Schadete alles nicht, war den Leuten aber wahrscheinlich eher nicht so wichtig. Santiano ritt auf dem Großmarkt die Folkwelle mit großer Geste, das langte völlig zur Überwältigung.
Mit dem Segelschiff durch die Weltmeere
Es waren einfache Zeilen, die da mitgesungen wurden – „So früh am Morgen, die Welt steht noch still/Blick auf die Förde, ich kenn das Gefühl/Zu oft verlier ich’s im Wettlauf der Zeit/Wir müssen weiter, weiter, doch wenn alles schweigt“. Oben am Abendhimmel zogen die Wolken, unten konnte man so tun, als schwankte man mit dem Segelschiff durch die Weltmeere. Und „Hooray for Whiskey“ ist die Säuferhymne, bei der die Kaltgetränke in den Bechern besonders überzeugt schwappten.
Man sah auf diesem Konzert sehr erwachsene Männer und Frauen sehr fröhlich umherspringen. Santiano ist Musik für Menschen, die Seefahrerlieder lieben, aber längst angekommen sind im Leben.