Last Exit Grindelviertel: Maxim Biller erzählt in seinem neuen Buch von seiner Mutter. Und einem Sohn, der nirgendwo zu Hause ist.
Maxim Billers unverhüllt autobiografischstes Buch ist „Der gebrauchte Jude“. Aber es ist auch jedes andere in seinem Werk ein Buch über ihn selbst. Oder den Typus des Mannes, der fremd im eigenen Land ist oder eigen im fremden Land. Den tragischen, komischen, verzweifelten, manchmal heiteren, öfter mies gelaunten, wirklich immer interessanten Melancholiker, der nirgendwo dazugehören kann und will. Oder vielleicht gerade doch.
Maxim Biller ist der unbedingte Emigrant, der notorisch wütende jüdische Schriftsteller, der zu Hause im Deutschen ist, aber in einem Land lebt, in dem es einst keine Juden mehr geben sollte. Maxim Biller ist außerdem ein Ex-Hamburger, und er ist ein Sohn. Beides verknüpft er nun in „Mama Odessa“, einem Roman, der vor allem eines einmal mehr verdeutlicht – dass Billers sicher nicht ansatzweise unbeachtetes Werk bislang trotzdem eher noch unterschätzt ist. Es ist allerbestes Büchner- und Buchpreis-Material.
Maxim Billers Roman „Mama Odessa“: Hommage an Rada Biller
„Mama Odessa“ ist sein vielleicht zärtlichstes Buch, eine Hommage an seine Mutter, die Hamburger Schriftstellerin Rada Biller, die 2019 starb. Und dennoch ist die Mutter-Sohn-Erzählung von „Mama Odessa“ reinste Literatur, jeder Satz eine köstliche Lüge, die wahrer selten nicht sein könnte. Die Roman-Mutter heißt Aljona Grinbaum, hat (wie Rada Biller) armenische Vorfahren und kam 1972 aus Odessa nach Hamburg, wo sie an der Uni arbeitete und einen Sohn großzog, in Bezug auf den sie sich wünscht, sie hätte ihn glücklicher geboren, fröhlicher.
Aljonas Mann Gena Grinbaum geht irgendwann stiften, zieht mit seiner „Nazi-Hure“ nach Othmarschen. Die Eheleute Grinwald verbindet ein Trauma, das wiederum die Wurzel eines anderen Traumas ist. Einst, in der alten Heimat Odessa, traf ein Giftanschlag Aljona und galt doch eigentlich dem Zionisten Gena. Danach übersiedelte die Familie in den Westen. Ausgerechnet nach Deutschland – eine einschneidende Erfahrung für alle Beteiligten, besonders aber Sohn Mischa.
„Mama Odessa“ ist ein Buch der Schmerzen. Sie betrifft alle dort auftretenden Emigranten, und man versteht so gut wie nie, warum Maxim Biller sein literarisches Werk um die Erfahrung der Entwurzelung gebaut hat. Sein Ich-Erzähler Mischa, der Sohn Aljonas, ist als Alter ego Billers literarisch wieder eine hochwillkommene Außenseiter-Figur, die erfährt, wie es ist, als Zugezogener unter Deutschen zu sein.
„Mama Odessa“: Als Jude unter Hamburgern
Oder genauer: unter Hamburgern. Die Grinbaums leben im Grindelviertel, in der Hartungstraße, direkt bei den Kammerspielen. Mischas Klavierspiel ist für die Besucher der Vorstellungen in deren Pausen gut zu hören.
Ein schönes, schiefes Bild für Maxim Billers Schriftstellerexistenz. Wie Mischa wohnte er in seinen Teenagerjahren in der Hartungstraße. Seine späteren Bücher kauften und kaufen die Leute freiwillig, wo es doch hinsichtlich des übenden Pianisten so oder so keinerlei Entrinnen gab. „Mama Odessa“ ist ein literarischer Streifzug durch den Grindel.
Wobei es nur Aljona ist, die bis zum Ende ihres Lebens dort bleibt. Mit ihrem Sohn, der so anstrengend nachtragend ist, verbindet sie eine auf bratzige Weise liebevolle Beziehung. Vieles wird nie ausgesprochen, als wären die Leben von Mutter und Sohn tatsächlich das, was der eine Hauptgegenstand ihrer Dialoge ist: Literatur. Dort muss man das Ungesagte im Gesagten auch oft suchen. Ihr anderes Großthema ist die Vergangenheit, das verlorene Paradies.
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Ist das osteuropäische Gift, das Aljona einst lähmte, im späteren Leben gleichbedeutend mit der Anhänglichkeit an alles Russische? Lässt jenes sie, die spät zur Schriftstellerin wird und in das kulturelle Leben eintaucht, nie ganz in Deutschland ankommen? Als sie alt und krank ist, pflegen sie Ukrainerinnen und Russinnen, sie kocht Borschtsch, schreibt auf Russisch – und liest jeden Tag das Abendblatt.
Maxim Billers neuer Roman: Aus dem Leben Literatur machen
Manche Vorwürfe, die Mutter und Sohn sich machen – besonders den der jeweiligen Abwesenheit –, teilen sie sich fortwährend explizit mit. Aber es ist auch die Gemeinsamkeit im Literarischen, die sie zusammenbringt. „Mama Odessa“ ist ein Buch, das von Literatur handelt; davon, wie man aus seinem Leben Literatur macht, weil man so festen Grund unter den Füßen findet. Und wie man andere und nicht zuletzt die, die einen am nächsten sind, mit Literatur verletzt.
Wenn dieser Text der Abschiedsgruß eines Sohnes an seine Mutter ist, so ist er in gleicher Weise auch das trotzig-triumphale Zeugnis des Sohnes, der ohnehin ein Einzelgänger ist, aber diese Existenzform am Ende immer verteidigen würde. Wenn Mischa nachts, nach stundenlangem Billardspielen in den Bierstuben von Rotherbaum, nach Hause kommt, trifft er seine wort- und vorwurfslos auf ihn wartende Mutter noch an. Auf dem Heimweg ist Mischa in der Bornstraße Ecke Grindelhof immer, ohne sich mit den Händen abzustützen, über einen Poller gesprungen.
Wenn das klappte, verschwand die Traurigkeit, und Mischa stürzte sich neugierig in den nächsten Tag. Eigentlich, berichtet der Ich-Erzähler, springt er immer noch über den Poller, wieder und wieder. Egal, ob er etwas Respektloses über die Dichter der Deutschen sagt oder in Bars anderen Gästen mit impertinenten Fragen zu Leibe rückt.
Maxim Biller: Reue einem alten Freund gegenüber
Oh ja, dieser Erzähler ist unverschämt und genau dann auch besonders komisch. Einmal schildert er das herzliche, aus der Fremde mit in die neue Heimat gebrachte Verhalten des Vaters, sein Agieren im Zwischenmenschlichen. Gena Grinbaum habe den Leuten beim Sprechen die Hand auf den Unterarm gelegt, oder er „umarmte sie zur Begrüßung, und für so etwas wurde man damals in Hamburg eigentlich noch erschossen“. Böse – und leider geil.
Dieses Buch, geschrieben in der sepiafarbenen und doch gestochen scharfen Prosa des geborenen, des empfindlichen und bösen, sentimentalen und warmherzigen Schriftstellers Maxim Biller, ist sanfter, als man es von diesem oft gewohnt ist. Seinen Mischa lässt er sich an Hamburg, an den Freunden der Mutter, an der Geliebten des Vaters und dessen neuer Existenz abreagieren. Er lässt ihn aber auch Reue verspüren, einem Schriftsteller-Freund gegenüber, dessen Kismet ein früher Tod war.
Maxim Biller: Tränen im Vier Jahreszeiten
Und er lässt ihn („War ich überall zuhause – oder nirgendwo?“) Tränen vergießen, die nicht allein der gestorbenen Mutter gelten. Er steht im Vier Jahreszeiten am Fenster und blickt auf das Wasser vor ihm.
Er denkt an das, was er in München liebte („den endlosen Blick über die ganze Ludwigstraße bis zu Siegeshalle), in Berlin („die hunderteins chinesischen Geschäfte und Restaurants in der Kantstraße“), in Tel Aviv („den Geruch von Benzin, Abfall und Harissa in der Luft“) und Odessa („das alte Puschkindenkmal vor dem Gebäude des Stadtrats, unter dessen Füßen ich als Kind oft stundenlang allein sitzen und lesen durfte“).
Das graue Wasser der Alster, die einsame Fontäne, er fängt an zu weinen: „Ich kannte diese Fontäne, seit ich ein Kind war. Ich liebte es, wie sie im Frühling und Sommer in tausend Farben strahlte und im Winter mit dem grauen Hamburger Himmel verschmolz.“