Wacken. Das Metalfestival lässt nur 50.000 von 85.000 Besuchern auf den „Holy Ground“ In den Sozialen Medien ist die Stimmung gemischt.
„Gefangen im Fegefeuer, ein lebloses Objekt, lebendig. Warten auf Vergeltung. Regnendes Blut von einem zerrissenen Himmel“: Der Song „Raining Blood“ von Slayer aus dem Jahr 1986 ist nicht nur einer der größten Klassiker des Thrash Metals, sondern gibt auch einen Teil der Stimmung in und um Wacken und in den Sozialen Netzwerken wieder: Ein großer Teil der 85.000 erwarteten Metalfans wurde am Mittwochmorgen von den Veranstaltern schlicht und einfach ausgesperrt.
Es ist in der Geschichte des seit 1990 bestehenden Festivals ein einmaliger Vorgang. Oder besser eine Kette aus Vorgängen, die in ihrer Kombination aus ungünstigen äußeren Umständen, Pech, Unvermögen und mangelhafter Kommunikation an den „Werner – Beinhart!“-Film (1990) erinnert. Da gibt es eine Szene, in der Klempnermeister Röhrich ein „vergriesgnaddeltes“ Heizungsventil mit der Zange bearbeitet. Der Druck auf die Leitung ist so groß, dass Röhrich sprichwörtlich die Sch… um die Ohren fliegt. Er macht dann Schlammköpper. Eine norddeutsche Tragikomödie mit viel Bölkstoff.
Wacken: Nach und nach wurde der Hahn der Ankommenden zugedreht
Die Parallele ist das Wacken Open Air 2023: Nach tagelangem Dauerregen sind Wiesen, Konzertareale, Campingplätze, Einfahrten und Zufahrtswege komplett durchgeweicht. Dennoch begann am Montag die Anreise für Zehntausende Metalfans aus aller Welt. Teilweise mussten ihre Fahrzeuge einzeln mit Treckern auf die Areale geschleppt werden, die Staus wuchsen, ein Anreisestopp wurde verkündet. Teilweise mehr als 24 Stunden lang harrten die Fans in ihren Fahrzeugen, ob auf Feldwegen oder bei den vielen, vielen hilfsbereiten Menschen im Umland, die Stellplätze in Gärten und auf Höfen anboten.
Nach und nach drehten die Festivalorganisatoren den Hahn der Ankommenden immer weiter zu. Bis Dienstagnachmittag durfte man nur mit Zug und Shuttlebussen anreisen. Am Abend wurde ein Anreisestopp für Fahrzeuge bis zum Festivalende am Sonntag verkündet. Und am frühen Mittwoch schließlich: Anreise- und Einlassstopp für alle. Wer sein Ticket bis dahin noch nicht in ein Eintrittsbändchen umgetauscht hatte, darf jetzt wieder nach Hause fahren. Sogar das Dorf Wacken sollen Menschen ohne Bändchen nicht mehr betreten, so der Aufruf: Parkplätze gäbe es keine mehr und auch die Shuttle-Kapazitäten seien ausgeschöpft.
Wacken: 50.000 Metalheads dürfen feiern
Laut Polizeiangaben haben es bis Mittwoch bis zu 50.000 Metalheads geschafft, sich einen Campingplatz oder zumindest Eintrittsbänder für die Bühnenareale zu sichern. Die machen jetzt Schlammköpper. Mindestens 35.000 weitere aber, die vielleicht nur wenige Kilometer vor dem „Holy Ground“ gestrandet oder noch nicht von Daheim aufgebrochen waren, schauen in die Röhre. Wer zuerst kam (und dabei teilweise den Anreisestopp ignorierte), feiert jetzt bis Sonnabend – wenn nicht noch mehr dazwischenkommt – mit Iron Maiden, Megadeth und Doro im Schlamm. Alle anderen bleiben auf zerrissenen Nerven und teilweise exorbitant hohen Kosten sitzen.
So wie Sinja, die mit ihrer Freundin Barbara auf dem Parkplatz Rot am Volksparkstadion untergekommen ist: „Mit dem Parkplatz sind wir super zufrieden, da können wir uns gar nicht beschweren“, erzählt sie. Die Atmosphäre am Dienstagabend sei dort trotz der Umstände super gewesen. „Es war wie ein kleines Festival, wir sind ja alle besten präpariert. Wir sind Metalheads und dann haben wir halt hier unsere Party gemacht, auch wenn wir natürlich lieber in Wacken gefeiert hätten“, berichtet Barbara, „es war wie ein kleines Wacken“.
Wacken: „Wir haben einen Plan und der heißt nach Hause fahren“
Die ausgelassene Stimmung schwand jedoch schnell, als am Mittwochmorgen das Anreise-Aus bekannt wurde. Aufbruchstimmung ist jetzt angesagt. Ärgerlich finden die beiden auch die undurchsichtige Kommunikation der Veranstalter. Lange mussten die Wacken-Besucher auf Informationen warten, es gab und gibt viele Gerüchte und Vermutungen, etwa dass weiterhin Fahrzeuge auf das Wacken-Gelände gelassen werden. Die Freundinnen haben einen Camper für 1000 Euro gemietet. „Das Geld dafür ist natürlich flöten“, sagt Sinja, für die ein spontaner Trip an die Nord- oder Ostsee wegen des Wetters und der vollen Campingplätze aufgrund der Sommerferien keine Alternative ist. „Wir haben einen Plan und der heißt nach Hause fahren“, erklärt die Mainzerin zwar etwas enttäuscht, aber voller Hoffnung dann im nächsten Jahr in Wacken feiern zu dürfen.
Die Wacken-Chefs Thomas Jensen und Holger Hübner kündigten bereits an, die Ticketkosten von 300 Euro exklusive Vorverkaufsgebühren zu ersetzen, aber weitere Kosten für Anfahrt, Verpflegung, Mietwagen und -Camper, Hotels, Bahnfahrten und Flüge werden an den Fans hängen bleiben. Knapp ein Drittel reist aus dem Ausland an, auch aus Kanada, Mexiko, Australien, Kolumbien. Da gehen Tausende Euro den Bach runter.
Wacken: Metalfans studieren jetzt die Allgemeinen Geschäftsbedingungen
„Wird das Wacken Open Air abgesagt, besteht ein Anspruch auf Erstattung des Eintrittspreises ohne Vorverkaufsgebühr. Das Wacken Open Air wird bei jeder Witterung durchgeführt, sollten die Witterungsumstände jedoch Gefahr für Leib, Leben oder Gesundheit für Besucher, Künstler oder Personal befürchten lassen, wird das Wacken Open Air sofort abgebrochen oder zeitweise unterbrochen. In diesem Falle sowie bei Abbruch des Wacken Open Air aus sonstigen Gründen höherer Gewalt, aufgrund behördlicher Anordnung oder gerichtlicher Entscheidung, besteht kein Rückvergütungs- oder Schadensersatzanspruch, es sei denn, dem Veranstalter kann Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden“, heißt es in den AGB beim Ticketkauf.
„Schadenersatzforderungen zum Beispiel für Fahrt- und Hotelkosten sind möglich, wenn der Veranstalter eine Schuld an Ausfällen tragen würde“, teilt die Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein mit. Aber trägt der Veranstalter Schuld an wochenlangen Regenfällen?
Wacken: Im Netz gibt es viel Kritik – aber auch Solidarität
In den Sozialen Netzwerken gibt es zusammengefasst zwei Sichtweisen: Solidarität und Verständnis für die Veranstalter und vor allem mit den Festivalcrews und Helferinnen und Helfern, die seit Tagen alles Mögliche und Unmögliche versuchen, um das Wacken Open Air irgendwie durchzuführen – für so viele Menschen, wie es durch Umstände und Sicherheitsbedenken noch vernünftig und vertretbar erscheint. Die andere Sichtweise ist Kritik daran, dass trotz schlechter Wetterprognosen nicht adäquat reagiert wurde - und sei es durch eine Komplettabsage im Vorfeld wie in den Corona-Jahren 2020 und 2021. Bis Sonnabend sind weitere Niederschläge und Gewitter angekündigt.
In nicht wenigen Jahren und ganz besonders 2012 und 2015 verwandelte sich das Wacken Open Air in eine Matsch- und Wasserwüste. Und trotz neu angelegter Drainagen, Arbeitswege und angeschaffter Weghilfen und Überbrückungen bleiben Moorböden und norddeutsches Sommerwetter Dauerthema. Dabei hat sich die Besucherzahl von 30.000 im Jahr 2003 auf 72.000 im Jahr 2007 mehr als verdoppelt und lag bis 2019 bei offiziell 75.000. Es wurde in immer mehr Bands, Bühnen, Märkte, VIP-Schlafplätze („Residenz Evil“) und Unterhaltungsareale wie das „Wackinger Village“ und eine Bier-Pipeline im Infield investiert. Und in maximale Vermarktung, zum Beispiel dieses Jahr durch die RTL-Serie „Legend of Wacken“.
Wacken: 2019 übernahm ein US-Investor die Festivalfirma ICS
Aber mehr und mehr Fans fragen sich, was im Vorfeld an wetterfesten Infrastrukturen möglich wäre auf den gemieteten oder gepachteten Feldern und Wiesen, die im Rest des Jahres bewirtschaftet werden. Oder ob seit der Übernahme des Wacken-Veranstalters ICS durch den US-amerikanischen Investor Superstruct Entertainment 2019 vielleicht an den falschen Stellen gespart wird.
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Jedenfalls scheint das Wacken Open Air mit 85.000 zahlenden Gästen, mehr als 100 Bands und über 10.000 weiteren Festivalmenschen vom Beleuchter bis zum Dixi-Reiniger an seine dörflichen Grenzen zu stoßen. Kritik am Konzept „Faster:Harder:Louder“, am Megametalfest, am „Metal-Mallorca“ gibt es seit 20 Jahren, viele Wacken-Veteranen fahren jetzt zu familiäreren Festivals wie „Rockharz“ oder „Party.San“. Gleichzeitig wächst die internationale Konkurrenz, die wie das „Hellfest“ in Frankreich Wacken in vielen Bereichen alt aussehen lässt: noch mehr Bühnen, mehr Menschen, mehr Metallica - sprich größere Bands.
Wacken: Bleibt die Ticket-Nachfrage größer als das Angebot?
Wacken ist unter Druck geraten, gerade nach zwei sehr leisen, aber kostenintensiven Coronajahren. Wacken muss stattfinden, koste es, was es wolle. Wenn 50.000 auf dem „Holy Ground“ sind, subventionieren sie auch die Regressforderungen der 35.000 Übrigen. „Sabbel nich, dat geit!“, ruft Meister Röhrich im „Werner“-Film nach Warnungen von Lehrling Werner und Geselle Eckat, greift zur Zange und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Auf Wiesen und Zufahrtswegen, auf Facebook und Instagram, in den Medien und einschlägigen Metalforen. Ein Shitstorm. Und das will was heißen in einer Subkultur, die für ihre Friedlichkeit und entspannte Genügsamkeit bekannt ist. Viele der diesjährigen Ticketkäuferinnen und -käufer werden nächstes Jahr nicht wieder kommen. Allerdings war das diesjährige Festival nach fünf Stunden ausverkauft, die Nachfrage war also bislang viel größer als das Angebot.
Wacken: Wird das Festival zum nächsten „Dynamo Open Air“?
Aber es ist durchaus möglich, dass Wacken zum nächsten „Dynamo Open Air“ wird. Das Festival in den Niederlanden war Mitte der 90er das absolut unbestrittene internationale Metal-Mekka, überschritt jedoch 1995 mit 120.000 Fans (in Wacken waren in dem Jahr gerade mal 5000) in vielerlei Hinsicht seine Grenzen. Bei seiner Einstellung 2005 war es schon in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. „And so we rise to ruin“, heißt es im brutalstmöglichen Metalkracher „The End Of It All“ von Gorefest: „Und so steigern wir uns immer weiter bis zum Ruin“.