Wacken/Hamburg/Itzehoe. Von Ärger über Hoffnung bis zur großen Enttäuschung: Eindrücke von den gestrandeten Metalfans in Hamburg und Itzehoe.
„Es eskaliert eh“, steht auf einem T-Shirt einer Frau am Bahnhof Itzehoe. Wie Hunderte weitere Metalfans wartet sie am Dienstagmittag seit knapp zwei Stunden auf einen Shuttle-Bus, der sie zum Wacken Open Air bringt. „So langsam muss ich mal aufs Töpfchen“, sagt sie. Am Ende der Bushaltestelle stehen zwei mobile Klohäuschen und ein Pissoir. Immerhin. Man kann es schlechter treffen auf der Anreise zu einem der – mit 85.000 Headbangern – größten Metal-Festivals der Welt.
Seit Tagen regnet es in Norddeutschland, die Böden können keinen Tropfen mehr aufnehmen. Felder und Wiesen, Feld- und Zufahrtswege, Parkplätze und Campingareale sind vielerorts nicht mehr befahrbar. Trotzdem machen sich seit Montag früh Tausende Metalfans aus aller Welt auf den Weg nach Wacken. Dazu Crews und Personal, Händler und Bands. Die Organisation vor Ort kriegt die Fahrzeuge nur noch im Schlepp auf die durchgeweichten Areale.
Wacken: Nach wenigen Stunden muss die Anreise unterbrochen werden
Mit jedem Camper, jedem Auto, das mit Treckern und Allradjeeps nach und nach auf den „Holy Ground“ gezogen wird, werden die Furchen tiefer. Panzerplatten, Rindenmulch und Drainagen bringen wenig bis nichts mehr. Montag Nachmittag wird ein allgemeiner Anreisestopp verkündet: „Regen gibt es bei Festivals manchmal. Rain or shine. Aber nur selten so viel. Deshalb sind die Campingflächen aktuell nicht befahrbar. Wir müssen die Anreise zum W:O:A aus diesem Grund unterbrechen. Die Vorbereitungen für das Festival laufen aber wie geplant.“
Die Wetteraussichten sind miserabel, und mit jeder Stunde steigt der Druck auf den Flaschenhals der Ankommenden, trotz Anreisestopp. Der perfekte Sturm. „Bitte stoppt eure Anreise und sucht da, wo ihr seid, einen geeigneten Warteplatz, bis wir euch darüber informieren können, dass sich die Situation verbessert hat. Außerdem suchen wir geeignete Ausweichflächen, auf denen ihr ggf. die Nacht verbringen könnt.“ Nur Fans ohne Fahrzeuge sollen weiterhin anreisen.
Wacken: Entspannte Stimmung auf dem Ausweich-Parkplatz am Volksparkstadion
Eine dieser Ausweichflächen zum Zwischenstopp ist auf dem Parkplatz Rot des Hamburger Volksparkstadions: Provisorisch aufgebaute Pavillons, Wäscheleinen, an denen schon die erste nasse Kleidung trocknen soll – und immer wieder der Blick aufs Smartphone in der Hoffnung auf die Nachricht, dass eine Weiterfahrt zu einem der größten Metal-Spektakel der Welt endlich möglich ist. „Es kommt alles wie es kommt, fürs Wetter kann ja niemand etwas“, so einer der gestrandeten Metal-Fans. Gut 250 Fahrzeuge sind am Montag im Laufe des Tages eingetroffen.
Trotz einer Kapazität von 2200 Parkplätzen hat die Festivalorganisation bereits weitere Parkflächen am Volksparkstadion angefragt. Sanitäreinrichtungen wurden bereits erweitert. „Wir gehen davon aus, dass hier in der Nacht zum Mittwoch noch deutlich mehr los sein wird“, sage die Parkplatzwächter. Trotzdem wird das Beste aus der Situation gemacht. „Die Stimmung ist gut, und die Vorfreude ist nach wie vor da“, da sind sich alle einig. Doch wie lange die Metalheads dort noch warten müssen, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand.
Wacken: In den sozialen Netzwerken steigt die Wut
Am Bahnhof Itzehoe staut es sich ebenfalls. Der „Metal Train“-Sonderzug ist am Morgen mit 700 Fans eingelaufen, die einen eigenen Shuttleservice zur Verfügung haben. Wenn er denn kommt. Man stapelt Gepäck (Zelte, Rucksäcke, Hülsenbier) zu Pyramiden, stößt an und übt sich beim nächsten Schauer in Galgenhumor: Einem Kuttenfan, der sich hastig einen Poncho über die Nietenweste zieht, zerreißt es den Regenschutz: „In Wacken trägt man dieses Jahr rückenfrei“, lobt ein Umstehender und reicht eine Dose 5.0-Bier.
In den sozialen Medien kocht derweil der Schlamm hoch. Mit jeder Stunde, in der die Festivalbesucher von Ordnern und Polizei im weiten Kreis wie in einer Flughafen-Warteschleife um Wacken herumgeleitet werden, wächst die Wut. Nicht wenige verbringen zehn, 20 und mehr Stunden im Auto, sei es abgestellt am Feldwegrand, im Holperstau, irgendwo im Nirgendwo. Die Tanks, Handyakkus und Mägen leeren sich, Notdürfte und Müdigkeit, Erschöpfung und Entnervung steigen. Die Kommunikation der Organisatoren ist lückenhaft, angekündigte aktuelle Hinweise erscheinen auf der Homepage, in der App, auf Facebook oder Instagram mit mehreren Stunden Verspätung. Am Dienstagmittag wird der Anreisestopp auf unbestimmte Zeit verlängert.
Wacken: Einige Metalfans treten bereits die Rückreise an
Weitere mögliche Ausweichstationen wie der Ex-Famila-Parkplatz oder der örtliche Burger King in Itzehoe, in den Vorjahren an den Anreisetagen ein Meer in Schwarz, sowie die Regionalbahnen von Hamburg nach Itzehoe sind erstaunlich metalfrei. Viele scheinen die Anfahrt – wie von den Veranstaltern erbeten – zu verschieben. Oder komplett zu streichen. Festivaltickets für 300 Euro werden im Netz für die Hälfte angeboten. Ein Fan aus Süddeutschland gibt beim Kaffee im Burger King auf: „Ich bin seit 24 Stunden hier am Kreisen, war schon fast auf dem Campingplatz, da wurden wir wieder aus Wacken geleitet. Ich schlafe erst mal und fahr dann heim.“
Es dreht sich das große Metal-Roulette. Nach zwei Stunden Wartezeit am Bahnhof Itzehoe ist immer noch kein regulärer Shuttle in Sicht. Die Schlange wird länger und länger. Der DB-Store im Bahnhofsfoyer macht ein gutes Geschäft. Bier und Kippen. „Wir spielen jetzt Wacken-Gelände: einfach langsam vollaufen lassen“, scherzt jemand in der Schlange am Store. Neue Rekorde werden in Insta-Kommentaren verkündet: 30 Stunden im Auto. Andere wiederum brauchten von Hamburg bis zum Stellplatz nur 60 Minuten.
Wacken: Auch die Shuttle-Busse stehen im Stau
In Itzehoe ist man noch 20 Kilometer entfernt. Ein kleiner Schritt. Und dann heißt es, aus dem Shuttle zu springen und das Gepäck zu Fuß (Profis haben kleine Sackkarren mit) durch den Modder zu einem freien Platz für den Zeltaufbau zu wuchten. Mit Glück auf nassem Rasen, mit Pech mitten in der Suhle. Keine schönen Aussichten. Trotzdem ist man entspannt und geduldig, auch die Wacken-Crews, die am Bahnhof zu den Bussen leiten und Last-Minute-Tickets für die Shuttles verkaufen (einmalig 15 Euro in bar), sind hilfsbereit und gut gelaunt. Klar: trotz langer Wartezeiten ist nirgends die Hoffnung größer als hier, irgendwie zum Festival zu gelangen.
Aber viele in der Schlange halten Kontakt zu Freundinnen und Freunden, Voraus- und Aufbaukommandos, die irgendwo bei hilfsbereiten Privatpersonen untergeschlüpft sind oder im Stau stehen – oder mit vor Nässe schmatzenden Schuhen Zeltböden auf Modder ausrollen. Mitleid und Solidarität ist angesagt, aber manchmal auch Schadenfreude: „Kumpels haben sich einen Bulli für Wacken gemietet, 1500 Euro für eine Woche. Muss sauber wieder abgegeben werden.“ Zisch. Neue Bierkanne. Kein Shuttle.
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„Derzeit arbeiten wir die immer noch in Staus beziehungsweise auf externen und privaten Arealen zwischengeparkten Fahrzeuge ab. Dazu müssen wir jedes Fahrzeug einzeln mit einem Traktor auf den anvisierten Stellplatz schleppen, was viel Zeit für jedes einzelne Fahrzeug benötigt. Alle Traktoren sind Tag und Nacht im Dauereinsatz auf allen Flächen“, verkündet die Festivalleitung, „Ihr unterstützt uns am meisten, wenn ihr jetzt zu Hause bleibt.“
Wacken: Kompletter Anreisestopp bis Festivalende
Was auch immer damit gemeint ist. Zu Hause. Bis wann? Die Spekulationen zu einer Komplett-Absage des Wacken Open Airs häufen sich. Aber der Kreis Steinburg sieht nach Angaben des stellvertretenden Landrats Marko Förster gegenüber dem NDR keinen Grund für ein Not-Aus. Dafür müsste schon ein Orkan im Anmarsch sein. Und falls das Festival tatsächlich über die acht Bühnen geht, wird die Abreise am Sonntag sehr … interessant, wenn alle auf einmal wieder vom Gelände herunterwollen.
Aber diese Frage ist am späten Dienstagnachmittag Makulatur. Wer es bis dahin nicht auf die Campingplätze schafft, muss umdrehen: „Die Anreise zum Wacken Open Air mit Kraftfahrzeugen aller Art muss ab sofort final gestoppt werden. Durch die anhaltend schwierige Wetterlage mit den zusätzlichen Regenmengen in den letzten 24 Stunden und den daraus resultierenden Zustand der Campingflächen, Veranstaltungsflächen und Zuwege können keine Kraftfahrzeuge mehr das Campinggelände befahren, da sonst die Sicherheit und Versorgung nicht gewährleistet werden kann“, heißt es von der Festivalleitung.
Wacken: Nur noch vereinzelte Fahrzeuge können untergebracht werden
Und dieser Anreisestopp gilt bis Sonntag: „Sämtliche Metalheads in Kraftfahrzeugen aller Art sind angehalten, ihre Reise nach Wacken abzubrechen oder gar nicht erst anzutreten. Dies gilt bis zum Festivalende. Ausschließlich Fahrzeuge, die sich bereits in unmittelbarer Nähe zum Festivalgelände befinden, versuchen wir unterzubringen. Weitere Informationen zu dem Umgang mit euren Tickets klären wir gerade und werden sie so schnell wie möglich bekannt geben.“
Eine unfassbare Enttäuschung für Zehntausende Metalheads. „Wir sind sehr traurig, diese schwere Entscheidung – zum ersten Mal in der Geschichte des W:O:A – treffen zu müssen“, teilen die Veranstalter mit. Jetzt dürfte das Chaos richtig losgehen und das Fass in den sozialen Medien überlaufen. Es wird Wildparker geben und großes Umdisponieren inklusive noch vollerer Züge, vollerer Shuttle-Schlangen und nach den Corona-Absagen 2020 und 2021 einen absoluten Tiefpunkt in der Geschichte des Festivals. Nicht nur finanziell ein gewaltiger Schaden für alle Beteiligten.
Wacken: Nur ohne Fahrzeug gibt es noch eine Chance
Aber ein Problem nach dem anderen. Ein Shuttle-Bus erreicht die Haltestelle. Jubel, Gejohle und Pfiffe. Niemand kann sagen, wie lange er im stockenden Verkehr bis zum Absetzpunkt in Wacken brauchen wird. 30 Minuten? Drei Stunden? „Im Moment soll es ganz gut laufen“, berichtet eine Ordnerin. Knapp 50 Fans schaffen es mit Sack und Pack in den Bus. Dahinter warten 300 weitere auf den nächsten. Zisch. Bierkanne auf. Es eskaliert eh.