Avignon. Vor grandioser Kulisse steigt in Avignon das weltgrößte Theaterfestival. Einige, teils verstörende Arbeiten kommen bald nach Hamburg.
Ächzend schraubt sich der Bus über den Kies die Windungen den Berg empor. Alle paar Meter steht ein Feuerwehrauto. Wegen der Trockenheit herrscht extreme Brandgefahr. Beim Ausstieg empfängt einen das unfassbar laute Konzert der Zikadenschwärme, die die Garrigue-Sträucher bevölkern. Der Thymian duftet berauschend intensiv. Jetzt gilt es, noch letzte Meter über eine Schotterpiste zu Fuß zu bewältigen. Dann steht man vor einer gigantischen steinernen Kulisse.
Einmalige, unvergessliche Erlebnisse gibt es viele beim Festival d’Avignon, dem wohl bedeutendsten und größten Theaterfestival der Welt. Dieses ist besonders eindringlich. Der französische Theatermacher Philippe Quesne präsentiert 15 Kilometer von der Papststadt entfernt im Steinbruch von Boulbon vor 1200 Menschen an elf Abenden sein neues Werk „Le Jardin des Délices“ („Der Garten der Lüste“). Quesne nutzt dieses Amphitheater, das sieben Jahre lang nicht bespielt wurde, als Naturleinwand für einen utopischen Endzeit-Western voller Magie. Ende Januar wird der „Garten der Lüste“ auf der großen Kampnagelbühne in Hamburg aufgebaut.
Avignon: Theaterfestival macht Lust auf die Hamburger Aufführung
Die Vorlage, das gleichnamige Meisterwerk des niederländischen Renaissance-Malers Hieronymus Bosch aus dem Jahr 1490/1500, dient ihm mit seinen fantastischen Darstellungen des Paradieses, der Hölle und des Gartens der Lüste als Startpunkt für ganz reales, wenn auch fast mystisches Theater. Aufgemacht als Hippie-Cowgirls und-Cowboys beackern die acht Schauspielerinnen und Schauspieler seiner Compagnie Vivarium Studio den steinernen Boden mit Schaufeln und Spitzhacken. Und auf einmal erhebt sich in ihrer Mitte ein Riesen-Ei. Der Beginn einer neuen Zivilisation? Ein Lesezirkel führt die Gemeinschaft unter anderem zu Shakespeare, Dante und Perec, mit dem Mut der Verzweiflung debattieren und musizieren die Figuren gegen die ökologische Katastrophe an. Winzige Menschen vor gigantischer Natur.
„Dieser Ort ist sehr besonders. Es ist, als stünde man in einem Mondkrater“, erzählt Philippe Quesne am Morgen nach der Premiere beim Gespräch im verschlafenen Dorf Boulbon, während er sich an einem Espresso festhält. Der Theatermacher entdeckt in der Bosch-Malerei Parallelen zur Gegenwart. „Bosch zeigt fast wie in einem Comic die Möglichkeit einer anderen Welt. Mich erinnert das an die Zeit der Utopien Ende der 1960er-Jahre, als man dachte, man erfindet eine neue Welt. Nun ist sie ernst geworden. Was aber ist aus unseren Ansprüchen geworden in Bezug auf Frauen, Sexualität, Natur?“ Für diese Fragen findet der Theatermacher Bilder von großer Zartheit, aber auch feinem Humor. Die Menschen starten von einer Art Unfall aus und bilden ein Tableau Vivant irgendwo zwischen Rebellentruppe und therapeutischer Sitzung.
„Garten der Lüste“: Auf Kampnagel muss das Stück ohne französischen Steinbruch Magie entfalten
Formal erinnert Philippe Quesnes „Garten der Lüste“ an einen Science-Fiction-Western. „Das Bild des einsamen Cowboys, der einen Platz in der Welt sucht, hat mich schon als Kind sehr fasziniert“, erzählt Quesne. Auch ein Hauch von Fellini-Melancholie liegt über der Arbeit. Auf Kampnagel muss sie auch ohne französischen Steinbruch ihre Magie entfalten.
Manches ist neu und vieles anders in dieser 77. Festivalausgabe, der ersten unter der Direktion des portugiesischen Schauspielers, Regisseurs und Dramatikers Tiago Rodrigues. Das Programm ist internationaler geworden, avantgardistischer – und sehr viel weiblicher. Zur Eröffnung (die noch im vergangenen Jahr das Thalia Theater übernommen hatte) gab es eine Schweigeminute für den nach einem Polizeieinsatz gestorbenen 17-jährigen Nahel Merzouk, der nächtelange Gewalt in den Metropolen nach sich zog.
Frankreich-Proteste: Von Aufruhr ist auf den Straßen Avignons fast nichts zu spüren
Von dem Aufruhr ist auf den Straßen Avignons bis auf das üppige Sicherheitspersonal nichts zu spüren. Auch in diesem Jahr flanieren mehr als 100.000 Theaterbegeisterte und Touristen über den glühenden Asphalt des im Rest des Jahres verschlafenen mittelalterlichen Städtchens, um die 43 Produktionen des angesagten Festivals in verwunschenen Klöstern, Kreuzgängen und Schulhöfen zu sehen. Hunderte freie Gruppen werben auf den Straßen paradiesvogelhaft für die noch einmal rund 1500 Vorstellungen des Off-Programms.
Quesne feiert eine triumphale Rückkehr zum Festival nach zehn Jahren Abwesenheit. Dank der neuen Direktion ist auch Anne Teresa De Keersmaeker zurückgekehrt. In „Exit Above“ erforschen die belgische Star-Choreografin, die Musikerin Meskerem Mees, der Gitarrist und Tänzer Jean-Marie Aerts und der Musiker und Tänzer Carlos Garbin in der FabricA ein für sie neues Musikgenre, den Blues am Beispiel der Legende Robert Johnson und verweben ihn mit Gedanken aus Shakespeares „Sturm“. Mit zarter, glasklarer Stimme beschwört die junge Songschreiberin und Sängerin Mees Geschichten vom Gehen und Wandern – und das grandiose Tanz-Ensemble steigt in fluiden Bewegungen darauf ein, allen voran der begnadete Breakdancer Solal Mariotte.
Avignon: Junge Carolina Bianchi behandelt die Themen Vergewaltigung und Femizid
Eine weitere weibliche Stimme ist die noch sehr junge von Carolina Bianchi, sie ist in der ganzen Stadt nicht zu überhören. Die in Amsterdam lebende Brasilianerin setzt sich gemeinsam mit ihrer Compagnie Cara de Cavalo im ersten Teil der Cadela Forca-Trilogie „A Noiva e o Boa Noite Cinderela“ („Die Braut und die Gute-Nacht-Cinderella“) mit den Themen Vergewaltigung und Femizid auseinander.
Es beginnt im Gymnase du Lycée Aubanel ganz dokumentarisch. An einem Tisch vor einer Leinwand sitzend, erzählt Bianchi in weißem Hosenanzug und Cowboy-Boots die Geschichte der italienischen Performance-Künstlerin Pippa Bacca, die für eine Kunstaktion im Brautkleid per Anhalter durch die Türkei reiste und dort vergewaltigt und ermordet wurde. Das titelgebende „Cinderella“-Phänomen wiederum bezieht sich auf Männer, die K.-o.-Tropfen als „Vergewaltigungsdroge“ einsetzen.
Bald auch in Hamburg: Die Performerin nimmt selbst K.-o.-Tropfen auf der Bühne ein
„Für mich war es alternativlos. Ich musste dieses Thema behandeln. Es ist immer da. In meinem Leben und im Leben all jener, die ich kenne“, sagt eine sehr wache und sehr wütende Carolina Bianchi bei einem morgendlichen Treffen im Festivalzentrum. Die Arbeit der 27-Jährigen ist auch, das wird sehr schnell spürbar, der Versuch der eigenen Erinnerung und Traumabewältigung. „Es geht aber nicht darum, nur autobiografisch über mich zu sprechen, sondern darum, eine künstlerische Sprache zu finden, um über diese Gewalt zu reden und sich dem Nebel der Erinnerung anzunähern“, sagt Bianchi.
Kommentierend verbindet sie Zitate aus der „Hölle“ aus Dantes „Göttlicher Komödie“, mit Texten aus Roberto Bolaños Roman „2666“, in dem sich der 2003 gestorbene chilenische Autor obsessiv mit den Frauenmorden in der Ciudad Juarez in Mexiko beschäftigt hat. Doch Bianchi geht noch einen Schritt weiter, nimmt selbst reale K.-o.-Tropfen auf der Bühne ein, versinkt in einen tiefen Schlaf – und lässt ihr Performer-Ensemble übernehmen. In einer Art Ritual scheint es die bösen Geister von sexueller Gewalt und Hass austreiben zu wollen. Dieser zutiefst verstörende Abend lässt hier in Avignon niemanden kalt. Bianchis Ausgeliefertsein ist teilweise schwer auszuhalten. Hamburgerinnen und Hamburger können sich davon schon bald ihr eigenes Bild machen: Vom 18. bis 20. August gastiert der Abend beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel.
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Avignon: Theaterfestival steht für Entdeckungen und unvergessliche Erlebnisse
Avignon steht für Entdeckungen – und für große unvergessliche Theater-Erlebnisse. Ein intensives, abgrundtief nihilistisches liefert der französische Theatererneuerer Julien Gosselin im Innenhof des Lycée Saint-Joseph ab. Sein Abend „Extinction“ („Auslöschung“) ist eine kunstvolle Verschränkung von Thomas Bernhard und Arthur Schnitzler, Endzeitstimmung und letzter Party. Für die sorgen in der ersten von fünfeinhalb (!) Stunden DJs mit ultraharten Techno-Beats. Das Publikum steigt fröhlich darauf ein, stürmt die Bühne, schlürft Freibier und tanzt, als gäbe es kein Morgen. „Extinction“ ist ab Herbst an René Polleschs Berliner Volksbühne zu sehen, und da passt es wirklich ganz wunderbar hin. Gosselin hat seinen Castorf studiert und seine eigene Sprache gefunden. In meisterlicher Präzision kreiert er ein Gesamtkunstwerk aus Sound, Video und Text, deren drei Teile allerdings disparater kaum sein könnten.
Als die Schauspielerin Rosa Lembeck im dritten Teil einen schier endlosen Bernhard-Monolog spricht, geht es schon auf 3 Uhr morgens zu. Aber man hält durch hier in Avignon, koste es, was es wolle – auch auf harten Sitzschalen. Irgendwann umfängt einen, halb zerstört, aber auch erfüllt von Gedanken und Bildern, auf der Straße die immer noch milde, versöhnliche Morgenluft der Provence. Das Theater in Avignon, es fühlt sich in diesem Jahr sehr endzeitlich und vital zugleich an.
77. Festival d’Avignon läuft noch bis 25.7., Infos unter www.festival-avignon.com; Informationen zu den Hamburger Gastspielen:www.kampnagel.de