Hamburg. Die Intendanten Amelie Deuflhard und Ulrich Waller (heute St. Pauli Theater) erinnern sich an die Anfangstage von Kampnagel.

Dass aus ein paar Fabrikhallen einmal eines der international gefragtesten Produktionshäuser der darstellenden Künste werden sollte, haben die Initiatoren vor 40 Jahren wahrscheinlich nicht geahnt. In diesen Tagen blickt Kampnagel auf 40 Jahre seines Bestehens. Unter dem Motto „40 Jahre State of the Arts – das Jubiläum“ feiern Intendantin Amelie Deufl­hard und ihr Team gemeinsam mit dem Hamburger Publikum drei Wochen lang. Anlass für eine Rückschau in die wilden Anfangsjahre des Entstehens.

Einer, der damals mit dabei war ist Ulrich Waller, Intendant des St. Pauli Theaters und damals Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus. Mit Amelie Deuflhard verbindet ihn auch heute noch ein intensiver Austausch und natürlich ist er häufig zu Gast auf Kampnagel. Ein Gespräch über zugige Hallen, viel kreativen Willen, fehlende Gelder und wie man Kunst in die Stadt trägt.

Hamburger Abendblatt: 40 Jahre Kampnagel, was bedeutet diese Zahl für Sie?

Ulrich Waller: Es sind ja eigentlich 41 Jahre, denn Kampnagel hat sich 1981 aus einer Fabrik für Gabelstapler in ein Theater verwandelt. Gerd Schlesselmann, der Verwaltungsdirektor, hatte die Fabrik gefunden, die bis 1984 als Ausweichquartier während der Sanierung des Schauspielhauses genutzt wurde.

Amelie Deuflhard: Wir haben uns entschieden, das Jubiläum auf die Zeit zu datieren, als die freie Szene die Hallen mit Besetzungsproben freundlich okkupiert hat. Natürlich mit vollem Respekt für das Schauspielhaus, das diesen Ort überhaupt erst gefunden hat. Und für mich ist Kamp­nagels Geschichte als Kranfabrik entscheidend und prägend.

Herr Waller, Sie haben Kampnagel in einem Text zum 20. Jubiläum folgendermaßen gewürdigt: „Ausgestiegene Staatstheaterschauspieler und Regisseure trafen zwischen Taubenscheiße und Wasserlachen in Hallen, durch die die Kälte zog, entweder auf freie Theatermacher, die bisher dezidiert schwules Theater gemacht hatten, oder auf solche, die heftig nach neuen Formen für das politische Theater suchten.“ Klingt krass.

Waller: Als das Schauspielhaus 1984 ausgezogen war, blieb eine Restbesatzung an Technikern. Es gab kein Programm, keine Leitung, keinen wirklichen Etat, keine Perspektive. Das Gelände war ziemlich verwahrlost. Freie Gruppen zeigten unregelmäßig Produktionen, wie Michael Leye vom Pantheater oder Corny Littmann. Matthias Kraemer und seine „Fliegenden Bauten“ wollten das Gelände nur als Zeltplatz nutzen. Im Sommer 1985 gab es dann das erste Sommertheater und die Idee, ein eigenes Programm für Kampnagel zu machen. Dafür sind Mücke Quinckhart und Hannah Hurtzig engagiert worden. 1986 kam dann Dieter Jänicke dazu, der das Sommertheater übernahm. Die damalige Kultursenatorin Helga Schuchardt hat die weibliche Führung auf Kampnagel gegen viele männliche Angriffe durchgesetzt.

1986 brachten Sie mit Barbara Nüsse die legendäre Inszenierung des letzten Kapitels von James Joyces „Ulysses“ unter dem Titel „Penelope“ heraus. Wie verlief die Entstehung?

Waller: Ich erinnere mich an die Proben mit Barbara Nüsse, wir haben gefroren wie die Schneider. Wie sollte man diese riesigen unrenovierten Hallen heizen? „Penelope“ war die erste Kampnagel-Eigenproduktion. Sie wurde ein Riesenerfolg und tourte europaweit. Der Name Kampnagel wurde international bekannt.

Deuflhard: Als ich hier anfing, schwebte über Kampnagel die Legende dieses Gründungsmythos‘. Barbara Nüsse ist jetzt aktuell im Thalia Theater in der neuen Bob-Wilson-Inszenierung zu sehen. Wilson ist auch einer der frühen Avantgardisten, die auf Kampnagel gearbeitet haben. Wir zeigen hier die aktuelle, aber gelegentlich auch die historische Avantgarde. Zum Start meiner Intendanz 2007 haben wir mit einer „Besetzungsorgie“ angefangen und uns damit direkt auf die Besetzungsproben bezogen. Später haben wir mit John Neumeiers „Othello“, Pina Bausch und Lucinda Childs Kampnagel-Legenden gezeigt.

In den Anfängen waren ja auch schon die ganz großen Namen der Avantgarde da, der bereits erwähnte Jerome Savary mit „Weihnachten an der Front“ oder Peter Brook mit „Carmen“.

Deuflhard: Für Peter Brook ist die große Bühne K6 mit 840 Plätzen entstanden. Die gab es vorher nicht und sie war nicht vorgesehen. Aber Peter Brook wollte das unbedingt.

Waller: Das große Haus des Schauspielhauses zog ins Operettenhaus, der Malersaal nach Kampnagel mit zwei Spielvarianten K1 und K2. Dass mit Jerome Savary eine Ikone der freien Szene Kampnagel eröffnet hatte, war kein Zufall. Das Theater wollte sich neuen Formen und Ästhetiken öffnen. Und dann wurden aus zwei Jahren vier. Je länger es dauerte, umso schwieriger wurde es, Kampnagel wieder verschwinden zu lassen, was damals in der Hamburger Politik viele wollten. Das Damoklesschwert des Abrisses hing viele Jahre über dem Gelände.

Frau Deuflhard, heute ist Kampnagel Teil eins Bündnisses internationaler Produktionshäuser. Wie lässt sich eine solche Erfolgsgeschichte erklären?

Deuflhard: Kampnagel war immer recht kraftvoll und hat sich in den Jahren weiterentwickelt. Es war schon in den 1990er-Jahren Teil der internationalen Netzwerke mit dem Kaitheater in Brüssel, Hebbel am Ufer in Berlin und Mousonturm in Frankfurt. Als ich anfing merkte ich, dass Kampnagel selbst in New York total bekannt war. Dieter Jaenicke hat mit dem Sommertheater das Haus in Südamerika sehr bekannt gemacht. Längst hat auch die Politik erkannt, dass internationale Kultur-Orte in Zeiten der Globalisierung wichtig sind. Daran hat unser Produktionshäuser-Bündnis einen sehr großen Anteil. Außerdem hat Kampnagel einen kontinuierlichen Publikumszuwachs. Es gibt Anerkennung und Wertschätzung von den Kunstschaffenden, dem Publikum und Kooperationspartnern. In meiner Intendanz haben wir Kampnagel stärker vernetzt und für Kooperationen geöffnet.

Herr Waller, Sie waren Mitglied im Kampnagel-Beirat und haben Ihr Kabarettfestival ab 1987 einige Jahre hier veranstaltet. Warum war es ein guter Ort dafür?

Waller: Kabarett war damals extrem populär. In den 1990er-Jahren hatten wir Festivals mit über 20.000 Zuschauern. Als ich 1980 ans Schauspielhaus kam, haben der Dramaturg Hannes Heer und ich den Auftrag erhalten, das Malersaal-Programm zu machen. Unter dem Motto „Lieber lebendig als normal“ wollten wir uns der Stadt und den gesellschaftlich diskutierten Themen öffnen. Kabarett war da ein wichtiger Programmteil. Das Konzept haben wir mitgenommen nach Kampnagel und das ist in seiner DNA geblieben.

Deuflhard: Wir sind mit Rimini Protokoll im verglasten Cargo-Laster durch die Stadt gefahren, wir haben mehrfach die Alster, im vergangenen Jahr die Hochhäuser Lenzsiedlung in Eimsbüttel und zuletzt beide leer stehenden Kaufhäuser in der Innenstadt bespielt. Die Idee, dass man zu Hause kooperiert, aber auch in der Stadt neue interessante Orte entdeckt und entwickelt, ist in meinem künstlerischen Denken ein Erbe aus der Berliner Nachwendezeit, das ich auf Hamburg übertragen habe.

Seit den Anfängen war Kampnagel auch ein Ort der Freiheit, wo man sich ausprobieren konnte. Viele haben ihn als Ort der Freizügigkeit abgespeichert. Warum wird manches – etwa Nacktheit – immer noch skandalisiert?

Deuflhard: Wir haben 2011 von Pascal Rambert „Libido Sciendi“ gezeigt. Das war ein dekonstruierter Sexual-Act als Konzepttanz zum Sonnenuntergang ohne künstliches Licht. Eine kleine, feine Arbeit. Daraus haben die Boulevardmedien einen „Sexskandal“ gemacht – absurd! Wir hätten 1000 Karten pro Abend verkaufen können. Für ein Stück, das keinerlei freizügige Szenen hatte. Nacktheit gibt es überall, täglich auch in der „Bild“-Zeitung. Ich weiß nicht, warum das immer noch skandalisiert wird. Aber grundsätzlich war der Skandal schon immer in die Avantgarde eingeschrieben und wir sind nun eben Kinder der Avantgarde. Ich finde das nicht schlimm.

Waller: Schon bei der allerersten Produktion von Jerome Savary war nicht nur eine Protagonistin nackt.

2009/10 kamen 143.000 Besucher, das Internationale Sommerfestival hat regelmäßig um die 30.000 Besucher. 2011 und 2019 wurde Kampnagel jeweils mehrfach zum Theatertreffen eingeladen. Ist es damit Teil des Theater-Mainstreams?

Deuflhard: Die erste Einladung galt „Via Intolleranza II“ von Christoph Schlingensief. Er hat den Titel von Luigi Nonos Oper genommen, um mit seinen Schauspielerinnen und Künstlern aus Burkina Faso Intoleranz von Weißen gegenüber Schwarzen zu thematisieren. She She Pops „Testament“ war eine unkonventionelle Adaption von Shakespeares „King Lear“. Dasselbe trifft auf die Arbeiten von Thorsten Lensing, Thom Luz und wiederum She She Pop 2019 zu. Nicht wir sind Mainstream, sondern die Avantgarde wurde im Mainstream anerkannt.

Sie haben im vergangenen Jahr Ihren Vertrag bis 2027 verlängert. Welche Pläne haben Sie für die kommenden fünf Jahre?

Deuflhard: Es steht ein riesen Bauprojekt an mit Lacaton & Vassal. Das Gelände mit einem international preisgekrönten Architekturbüro zu sanieren, das den Bestand erhalten und die Fabrikhallen noch klarer sichtbar machen will, entspricht dem Geist von Kampnagel. Wir werden ab 2024/25 bei laufender Bespielung sanieren, also eine performative Baustelle haben. Parallel dazu werden wir systematisch die Stadt bespielen. Aktuell planen wir für die nächsten 40 Jahre.

„40 Jahre State of The Arts – Das Jubiläum“ bis 15.10., Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Infos und Programm unter www.kampnagel.de