Hamburg. Der Bariton Christian Gerhaher über Rollen und Rituale, Gummibärchen und Superkräfte. Zu gerne wäre er mal im „Tristan“ dabei.
Man erkennt ihn schon nach wenigen Tönen, nach wenigen Worten. Christian Gerhaher ist mehr als ein ausgezeichneter Sänger, er ist ein Charakterdarsteller, auf der Opernbühne ebenso wie im Liederabend. Nur eben immer wieder passend anders. Das Gesprächsleitmotiv: Rollen.
Hamburger Abendblatt: Was macht für Sie eine Rolle zur Lieblingsrolle?
Christian Gerhaher: Rollen sind für mich dann interessant, wenn sie mich einnehmen können. Und das zeigt gleich das Problem eines mehr oder weniger künstlerisch tätigen Menschen. Dass er sich mit einem Thema identifiziert, ist etwas, was viele Leute annehmen und auch ziemlich schnell verstehen.
Wie sieht es mit Angstpartien aus? Was bedarf es einer Rolle, um eine Angstpartie zu sein? Aber vielleicht sind ja die Rollen, die Ihnen den größten Bammel verursachen, auch die, die Ihnen am liebsten sind, weil das die schönste und größte Herausforderung ist.
Das entwickelt sich über die Zeit der Tätigkeit. Was Angst bedeutet, ist schwer zu fassen. Ganz ohne Angst, glaube ich, wäre es nicht gut. Nikolaus Harnoncourt hat mir einmal gesagt: ist doch gut, dass Sie ein bisschen Angst haben. Nichts wäre schlimmer, als eine kalte Hundeschnauze neben sich auf dem Podium zu fühlen.
Bariton Christian Gerhaher: „Ganz ohne Angst wäre es nicht gut“
Bei einem Sängerdarsteller wie Ihnen habe ich immer das Gefühl, in dem steckt ein Schauspieler, der dringend rauswill. Hat Sie das nie gereizt?
Doch. Auf jeden Fall. Aber ich würde nie sagen, dass Schauspiel einfacher sei als Musiktheater. Das Auswendigsingen strengt mich über die Zeit immer mehr an, die vielen verschiedenen Rollen, die vielen Texte, die man eigentlich kennen muss. Das belastet mich zum Teil, und ich könnte mir nicht vorstellen, eine Rolle wie den Lear zu lernen und bloß als Text zu rezitieren. Das ist eine gewaltige Aufgabe, vor der ich größten Respekt habe.
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Zum Thema Rituale. Ein O-Ton von Ihnen: „Vor einem Auftritt gehe ich in die Garderobe und wiederhole alle Lieder, zuerst die Noten, dann die Texte, eingebettet in eine Reihe unaussprechlich doofer Rituale.“ Was meinten Sie? Immer der linke Schuh zuerst, fünfmal gegen den Türrahmen klopfen?
Es geht in die Richtung, aber tatsächlich ist es mir zu privat. Es ist zu peinlich und es ist zu sinnlos, es geht in Richtung Aberglaube. Man verbindet Wirkungen mit bestimmten Ursachen, die nichts miteinander zu tun haben. Und das Problem: Je öfter man das gemacht hat, umso weniger einfach ist diese Sache rückgängig zu machen.
Was sagt Ihr Klavierbegleiter Herr Huber, den Sie etwa seit dem Kindergarten kennen, dazu?
Der hatte selbst früher solche Rituale. Bestimmte Konzertunterhosen. Wenn ich jetzt auch Konzertunterhosen habe, sagt er: So einen Quatsch machst du noch? Ich mache es halt immer noch und er nicht mehr.
Christian Gerhaher: „Gott, das ist so grauenvoll!“
Der „Tagesspiegel“ hat Ihre Liedkunst „diskrete Intensität“ genannt. Passt das auch noch, wenn Sie vor 2000 Menschen in einem Opernhaus singen?
Intensität finde ich wichtig, diskret gefällt mir eigentlich besonders gut.
Hundebesitzer gleichen sich gern ihren Hunden an. Strahlt bei Sängerinnen und Sängern das Stimmfach durch? Wird ein Tenor im Lauf seiner Karriere immer „tenoriger“ und ein Bariton übernimmt für sich baritontypische Züge?
Das klingt relativ plausibel, was Sie da beschreiben. Die technischen Möglichkeiten ändern sich. Jetzt kann ich manches singen, was ich früher einfach nie wirklich singen konnte ... Ich meinte eher das Charakterliche ... Ich weiß nicht, ob man das so konkretisieren kann. Aber ich glaube schon, dass Rollen und Persönlichkeit irgendwann ein Kontinuum werden.
Wüsste ich nicht, wie sich Ihre Stimme anhört, wie würden Sie mir die beschreiben?
Das ist etwas sehr Schwieriges. Einige Menschen sagen, sie mögen meine Stimme. Und wenn ich, neulich habe ich mit Herrn Huber fünf Tage lang Brahms-Lieder aufgenommen, das ist oft ein sehr schwieriger Prozess. Da muss man dann immer hochgehen ins Studio und, o Gott, diese Stufen des Grauens, die habe ich in meinem Leben, immer im selben Studio, so oft erstiegen. Und dann sitzt man da, und andere Leute hören auch zu, und man hört sich und denkt: Gott, das ist so grauenvoll! Es ist so hässlich, und es ist so doof. Distanz zum eigenen Tun zu gewinnen ist sehr schwierig.
Das klingt aber auch so, als ob Sie schwer daran arbeiten, sich selbst gegenüber nicht nachtragend zu sein.
Dass einem so etwas nachhängt, das gibt es. Aber klar, weitermachen ist wichtig. Auch am Konzertabend selbst, wenn man einige Töne, die einem wichtig waren, versemmelt hat.
Christian Gerhaher: „Ich bin wegen des Kunstlieds Sänger geworden“
Ihr Kollege Georg Nigl hat seine Aufgabe als Interpret so beschrieben: Es geht darum, dass ich Sie berühre. Ich bin der Projektor und rege hoffentlich in Ihnen etwas an.
Ich würde es anders sehen. Ich glaube eher, zumindest in der Tätigkeit als Liedinterpret, dass man als Darsteller nicht selbst berührt und so wenig wie möglich selbst berührt. Sondern dass man eine mediale Funktion einnimmt, dass man durch klangfarbliche Abstufungen versucht, diese Funktion zu moderieren. Die Person des Darstellers ist in meinen Augen am Ende idealerweise so flach wie ein Stück Papier.
Das hieße im Ergebnis: Nicht Christian Gerhaher steht auf der Bühne und singt, sondern etwas singt aus ihm heraus. Und er ist nur dafür da, dass etwas aus ihm heraus singt.
Eigentlich ja. Und natürlich sagt der Herr Huber dann seit Jahren, das ist schon recht mit deiner Selbstzurücknahme. Und trotzdem musst du dir bewusst sein, dass die ganze Sache ja einmal durch dich hindurch muss. Das ist richtig.
Wenn Sie und Herr Huber mal nicht gemeinsam auftreten, haben Sie Phantomschmerzen? Oder sind Sie froh, wenn Sie auch mal voneinander weg sind?
Das sind wir nicht. Wir haben sehr direkten Kontakt, aber auch keinen total dauerhaften. Wenn ich Oper singe, dann kann ich ihn nicht vermissen, denn es ist so etwas anderes. Was ich manchmal vermisse, ist das Lied. Ich bin wegen des Kunstlieds Sänger geworden und nicht wegen der Oper. Das bleibt auch so. Letztes Jahr war Herr Huber mal länger krank, da bin ich mit einem anderen Pianisten aufgetreten. Der war grandios, das kann ich gar nicht anders sagen und auch ein wunderbarer Mensch, wir haben uns bestens verstanden, und auch musikalisch war es kein Problem. Und trotzdem habe ich gemerkt: Die Selbstverständlichkeit, die mich mit Gerold auf der Bühne verbindet, das ist etwas, was neben der Ehe mit meiner Frau eines der unverzichtbarsten Geschenke in meinem Leben ist.
Christian Gerhaher im Abendblatt-Podcast „Erstklassisch“:
Christian Gerhaher: „Ich bin ohnmächtig geworden“
Der Herr Hubert hat über den interessantesten Auftritt von Ihnen beiden erzählt, das sei ein Konzert in der Kasseler Aussegnungshalle gewesen. „Herr Gerhaher fiel aufgrund einer Mageninfektion beim dritten Lied – ich glaube „Der Tod und das Mädchen“ – in Ohnmacht und landete in der ersten Zuschauerreihe.“
Es war wirklich so, ich bin sogar ins Krankenhaus gekommen. Ich bin ohnmächtig geworden und lag dann auf der ersten Reihe in dieser Aussegnungshalle, und es ging alles bloß um den Tod. Es war irre. Ich war total ausgetrocknet, weil ich eine Magen-Darm-Erkrankung mit Durchfall hatte.
Neulich wurden Kinder im SZ-Magazin nach Superhelden und deren Superkräften gefragt. Sie sollten sich welche ausdenken. Also: Welche Superkraft hätten Sie gern, abgesehen vom Ausblendenkönnen von Versagensängsten?
Das ist ganz banal, und ich träume das häufig. Es ist immer ein toller Traum: dass ich fliegen kann. Dass ich so abhebe, dass ich mich erhebe und schweben kann. Das hätte ich gern.
Gibt es noch eine Traumrolle, auf die Sie seit Jahrzehnten warten, aber niemand bietet sie Ihnen an?
Es gibt einige Rollen, die ich halt nie singen werde, weil es nicht dazu kommt oder weil ich mich auch nicht dazu fähig fühle. Eine Rolle, über die ich immer wieder nachdenke, die mir immer wieder angeboten wird, die ich mal ausgeschlagen habe und dann doch wieder möchte: Hans Sachs in den „Meistersingern“. Und eine andere Rolle, eine Traumrolle, die mir aber niemand gibt, weil ich zu teuer wäre, um das zu singen, das ist der Hirte am Anfang dritter Akt „Tristan“. Wenn dieses unvergleichliche Vorspiel zu Ende ist und die Schalmei beginnt, kommt er und sagt „Kurwenal! He!“. Das ist so unfassbar pur und rein und hell und klar, das ist für mich eine ideale Situation im Musiktheater. Dieser Anfang des dritten Akts „Tristan“ ist etwas, was für mich perfekt geglückt ist und wo ich gern mal dabei wäre.
Sagen Sie doch einfach, Sie machen es kostenlos. Dann geht‘s.
(lacht) Die Zeit habe ich noch nicht, dass ich kostenlos auftrete.
CD: Mahler „Das Lied von der Erde“ mit P. Beczala (Tenor) u. G. Huber (Klavier) (Sony Classical, ca. 18 Euro). Box-Set: „Schumann. Alle Lieder“ (Sony Classical, 11 CDs, ca. 46 Euro) Buch: „Lyrisches Tagebuch: Lieder von Schumann bis Rihm“ (C.H. Beck, 334 S., 25 Euro)