Hamburg. Achim Freyer und Kent Nagano setzten ihre Zusammenarbeit mit einer Rarität von Schumann fort. Eine mutige Aufgabe mit Tücken.
Eine Aufführung in einem Opernhaus auf einer Opernbühne, die aber keine Oper zeigt; im Mittelpunkt ein echtes Nationalheiligtum, ein Text, von dessen steilen Gipfeln schon einige tief ins Tal der Peinlichkeiten hinabgestürzt sind. Das Orchester, der Chor und fast alle Solisten? Nicht im Graben, sondern als schwer auszubalancierende Kommentarfunktion, von einem Vorhang verschleiert, im hinteren Teil der Bühne, als Tonkulisse vor einer schwarzen, fast leeren Scheiben-Erde. Und die Einzelgänger-Schablone, aus der die Hauptperson singt, dreht dem Publikum eigensinnig den Rücken zu? Verkehrte Bühnen-Welt.
Kein Osterspaziergang, kein entkernter Pudel
Als Robert Schumann sich darauf einließ, Szenen aus Goethes „Faust“ zu einem Bruch-Stück zusammenfügen zu wollen, wusste er wohl noch, was er tat. Und tat es trotzdem. Er kombinierte einige Abschnitte aus beiden Teilen und ließ drumherum beherzt alles weg, was daraus eine Handlung mit erkennbar fortlaufender Dramaturgie gemacht hätte. Kein Osterspaziergang also, und bloß kein entkernter Pudel. Nicht erzählen wollte er diesen Riesen-Stoff, sondern mit den Mitteln der Musik den im Gedankenraum schwebenden Rahmen einer Welt zeigen, in der Moral, Liebe, Tod, Wiedergeburt und Verschmelzung überwältigende Teile eines noch überwältigenderen Ganzen sind. „Faust“ eben, die volle Packung Mythos. Ziemlich radikaler Ansatz. Ein ziemlich spannender Ansatz aber auch.
Als der Bühnen-Bilderzauberer Achim Freyer und Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano sich darauf einließen, Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ auf die örtliche Opernbühne bringen zu wollen, wussten auch sie, worauf sie sich damit einließen. Und sie taten es dennoch; schließlich hatte ihre „Parsifal“-Entdeckung im vergangenen Herbst so einfühlsam mit Bilderrätseln und Leitmotiv-Chiffren gespielt, als wäre Wagners Bühnenweihfest eher ein handlich harmloses Kinderspiel.
Mut, der gewürdigt wird
Nun also dieses auch nicht handliche „Faust“-Irgendwie, kein Oratorium, keine Kantate, keine ausufernde Sinfonische Dichtung mit Gesangssolisten, am ehesten noch ein Melodram, eine Meditation über Musik, Theater, Gott und die Welt. Ein Experiment, dessen Mut am Ende dieser Premiere mit einhelliger Begeisterung gewürdigt wurde. Vor die zwei Stunden Goethe-Kurzstrecke montierte Freyer (der Auftakt von „Faust Eins“ lässt grüßen) ein tragendes Element seiner Stück-Philosophie als stummes „Vorspiel auf dem Theater“ ins Blickfeld: Rabenschwarz geschminkte Bühnenarbeiter trugen dies, das und jenes in bedeutungsgeschwängerter Zeitlupe von hier nach da oder dort. Mal ein Kirchenmodell, mal das Zifferblatt einer Uhr. Niedlich direkt dagegen waren die Leuchthörnchen für Mephisto (sonor solide: Franz-Josef Selig). Eher früher als später dämmerte das Interesse an diesen vielen, sehr vielen Einfällen allerdings weg.
Auf dem Boden lag anfangs die blaue Blume der Romantik, später zuckte dort stumm ein Metronom als Vergänglichkeitsanzeige. Gedankentrabanten und Denkanstößchen, die wie Monstranzen an einer kopflosen Kopie von Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ vorbeizogen. Eine weitere Silhouette nur, aber gleichzeitig auch ein weiteres deutsches Symbol mit Ewigkeitswert. Das war, rückwärtig ins Jetzt des Saaldunkels singend, Faust. Und das wiederum war, verkörperte und durchdachte klug: Christian Gerhaher.
Mit Gerhaher wurde es ein Ereignis
Das vermeintlich Unzulängliche dieser Stück-Zumutung: Hier, durch ihn, mit diesem Denker-Bariton wurde es Ereignis. Denn auch in den Durchhänger-Partien seiner Partie blieb er trotz einer überstandenen, im zweiten Teil des Abends stärker hörbaren Halsblessur stets dicht am Text und dessen Aussage. Immer wieder variierte er Details, schattierte Klangfarben ab, balancierte später, als Doktor Marianus, geschickt auf dem schmalen Grat zwischen Singen und Deklamieren.
Mag sein, dass das mitunter aufkommende Gefühl gediegener Gedankenschwere mit dem selbsteingebrockten Problem des Orchesters zu tun hatte, oft raten zu müssen, was die Solisten vor ihnen taten oder ließen. Kent Nagano schätzt knifflige Problemstellungen, doch diese hier hatte ganz besondere Tücken und sorgte dafür, dass sowohl Chor als auch Orchester nicht gänzlich im Reimschema der Komposition blieben und die Überzeugungskraft der Musik erst nach längerem Anlauf wirkte.
Großes Theater mit unterschätzter Musik
Ein Beinbruch war das nicht, aber zumindest ein leider und unnötig verknackster Knöchel. Denn viele der Ideen, die Schumann sich zu diesem Thema abgerungen hatte, haben die Eigenwilligkeiten von typischem reifen Schumann: die dunkel vorwarnende Ouvertüre, das biedermeierlich behutsame Walzern in einer Szene mit Gretchen (weder überfordert noch überwältigend: Christina Gansch).
Auch in der zweiten Abteilung, als Faust schon nur noch eine Ahnung seines Selbsts war, holte Schumanns Sinfonik immer wieder groß und elegant aus. Das feinfühlige Staunenkönnen darüber hob sich Nagano für die Schlussszene auf, deren Text Jahrzehnte später in Mahlers Achter Sinfonie zum donnernden Spektakel eskalieren sollte. Hier wehte noch ein ganz anderer Welt-Geist durch die Szene, in entrückte Sphären. Hier war und wurde dieser „Faust“ schließlich und endlich zu großem Theater, mit großer, unterschätzter Musik.
Termine: 31.10., 18 Uhr; 3., 6., 9., 14. und 17.11. jeweils 19.30 Uhr. Ausstellung mit Werken von Achim Freyer: „Stets gefunden, nie gesucht.“ Galerie Kammer, Münzplatz 11, 18.10. bis 17.11. CD: Am 16.11. erscheint
„Fragen“ (Sony Classical), die erste von zehn CDs, für die Christian Gerhaher bis 2020 alle
Schumann-Lieder aufnehmen wird.