Hamburg. Die Staatsoper-Neuproduktion des „Fidelio“ von Intendant Georges Delnon und Generalmusikdirektor Kent Nagano verlor die Orientierung
Was war das bloß? Und, noch dringlicher als entscheidende Frage danach: warum? Ein anderer Opern-Intendant hätte den Gast-Regisseur dieser Premiere rechtzeitig fürs Entnebeln der allzu vielen Einfälle und Assoziationen zur Seite nehmen können, um das Stück vom Kopf auf die Beine zu stellen; ein anderer Generalmusikdirektor hätte diskret ein Gespräch mit dem Gast-Dirigenten führen können, um Verhärtungen zu lösen. Hier aber, beim neuen Hamburger „Fidelio“, waren es die Staatsoper-Leiter selbst, die sich an Beethoven verhoben. Das betrübliche, zähe Ergebnis: Die Regie wollte zu viel aussagen, die Musik konnte zu wenig erzählen. Und das singende Personal, mittendrin alleingelassen, wusste nicht, wohin eigentlich mit sich. Rampenparken und steife Frontalbespielung, als wäre Simone Young noch Hausherrin und als wäre jede Standbein-Geste ohne Klischees eine zu viel. Szenenapplaus war Mangelware, und das in einer Oper, die in ihren Arien und Ensembles aufblüht und bezaubern kann.
Ein Drama, doch ganz anders als gedacht
Doch für diesen Zauber, für diesen Fluss fand Nagano im Graben kein geeignetes Mittel. Er buchstabierte das Orchester geradezu durch die Musik, Etappe für Etappe, ein Stück-Werk, keine Einheit, die in ihren Bann zog, die geschmeidig auf die Sänger und den Moment reagierte, die Farben bot, Stürmen und Drängen, Verweilen und Atmen erlaubte und ermöglichte. Keine Schärfe, kaum Süße, keine gar schrecklichen Abgründe, keine atemraubenden Höhenflüge. Es wackelte stellenweise arg im Zusammenspiel; auch der Chor, normalerweise standsicher und spielfest, fand längst nicht immer seine Begleitung. Das Quartett „Mir ist so wunderbar“, ein besonders krasses Beispiel, sang es, war aber weit davon entfernt.
Falk Struckmanns hatte als Rocco Format und sattes, nicht behäbiges Volumen, während Simone Schneider als Leonore oft in der Gefahrenzone des Überdramatisierens agierte. Es mag aber auch schlicht Notwehr gegen das oft flächig laute Tutti gewesen sein.
Dass in dieser einen Oper mehrere Genres stecken, vom anfänglich banalen Singspiel über das Melodram bis zum humanistisch verklärten Dauerjubel-Finale mit Menschheits-Oratorium, kann kein Grund für mildernde Umstände sein. Dass Delnon darauf reagierte, indem er Dialogtexte straffte, sie aber mit Kalenderspruch-Zitaten von Hölderlin bis Wittgenstein wieder andickte, wirkte befremdlich gewollt.
Besonders leid tun konnte einem jener Mann, der dieser Geschichte ihren Anlass gab: Florestan, Revolutionär, zu Unrecht eingekerkert und als Remake des berühmten Gemäldes „Der Tod des Marat“ in eine Blech-Badewanne hineinarrangiert. Als Ikonen-Zitat der Französischen Revolution fiel das Marat-Double aus der Ortszeit des Regie-Konzepts, das durch die Kunstlederjacken-Spießbürger-Dekaden des 20. Jahrhunderts trudelt und Beethovens spanischen Kerker in eine stasieske Außenstelle im blickdichten Staatsforst verwandelt. Dort dröhnt der Volksempfänger Staatspropaganda ins Vollzugsbeamtenhirn. Für alles und jeden, der nicht will, wie er soll, hat es eine Akte zu geben, und einen, den Kerkermeister Rocco, der sie tippt. Seine Karteileichen hat er in Griffweite im Blick, denn die Gefangenen vegetieren in Schrankwänden hinter einer Blümchentapete vor sich hin. So schrecklich deutsch, so einfach sollte es hier sein.
Roccos Töchterchen Marzelline fingerte sich anfangs am Wohnzimmerklavier brav durch Beethovens „Für Elise“, aber nur, bis die Gedanken in Richtung Fidelio abschweifen und ihr, wie im Textbuch vermerkt, die Brust schwillt, so sehr, dass sie umgehend ihr Oberteil aufknöpfen muss. Nun ja. Soll es irgendwie keusch sein, steht ein Rehkitz im videogenerierten Wald hinter den Panorama-Fenstern; ist Jaquino mit Marzelline allein und geht ihr sofort an die Wäsche, ist ein großer böser Wolf das Symboltier. Schon wieder: nun ja. Und warum der Schlusschor wie eine Sektenabordnung in Einheitsweiß auftrat? Man weiß es nicht.
Christopher Ventris’ an sich angenehm markanter Tenor jedenfalls verunfallte schwer, bei jenem ersten Einsatz aus dem Nichts, der für seinesgleichen so prestigeträchtig ist wie der „Wälse!“-Ruf in Wagners „Walküre“: Das muss sitzen. Bei Florestans „Gott! Welch Dunkel hier!“ wurde es am Sonntag stimmlich finster. Ventris klang so fahl verbraucht, als hätte er drei „Tristan“-Akte und einen Marathon mit Gegenwind hinter sich. Künstlerpech, nicht das einzige in dieser Premiere.
In seiner Rede auf der Premierenfeier, als er die vielen Buh-Rufe des Publikums hinter sich hatte, sagte Delnon, zwischen Intendanten-Baum und Regisseur-Borke eingeklemmt: „Inszenieren ist behaupten.“ Es ist ja auch etwas dran, dass eindeutiges Wissen für Kunst keine Maßeinheit ist. Dennoch klang es wie eine rechtschaffen zerknirschte Entschuldigung für das schmerzhafte Unentschieden dieser Annäherungsbemühung. Was für eine solche Premiere, mit zwei Staatstheater-Chefs am Werk, viel zu wenig ist. Ein Drama, ganz anders als gedacht. Das Happy End, die Utopie, das Wollen, Können, Dürfen, die Verbrüderung aller Menschen, der erhabene Traum für das Morgen, all das stand lediglich in der „Fidelio“-Partitur. Auf der Bühne war anderes.
Weitere Termine: Staatsoper, 1./4./6./9.2., 27.4., 2./5./9.5. (jeweils 19.30, am 4.2.: 18 Uhr) Karten: 6–109,- Euro unter T. 35 68 68