Hamburg. Verdis Oper wurde in Hamburg grandios aktualisiert. Dabei befindet sich der Regisseur Kirill Serebrennikov unter Hausarrest.

Endet die Wirklichkeit, sobald sich der Vorhang hebt und die dicke Dame aus dem klassischen Opern-Kalauer singt? Ist Kunst nur Kunst, wenn sie im Rahmen ihrer Notwendigkeiten künstlich wirkt, statt künstlerisch mit Gegenwart umzugehen? Darf man sich in diesen irren, wirren Zeiten noch unreflektiert erlauben, eine derart politische Oper als Stimmenspektakel und Pausenschnittchen-Vorspiel abfeiern zu wollen, bloß weil sie fast 180 Jahre alt ist und ein einzelner Verdi-Chorsatz ganz besonders zum Mitsummen einlädt?

Das wären nur einige der Fragen, die sich am Sonntag in der Staatsoper stellten. Dort wurde, so radikal und so gelungen wie selten, die Schall-Mauer zur Realität durchbrochen, bis es wehtat, echte Schicksale und menschliche Größe waren zu sehen. Es gab einen, nur einen einzigen „Aufhören!"-Zwischenruf.

Verdis „Nabucco“ in die Gegenwart geholt

Auf dem Spielplan: „Nabucco“, eine von unzähligen Opern über Unterdrücker und Unterdrückte, Größenwahn, Abgründe. Tolle Musik, sicher; praller, pathetischer, ohrwurmhaltiger Verdi. Heikles Leid-Motiv aber auch. Die alttestamentarischen Kostüm-Sandalen dieses Dramas über machtbesoffene Babylonier und verschleppte Hebräer sind ja längst ausgelatscht. Die sich überschlagende Aktualität heutiger Nachrichtenzyklen bildete daher für den russischen Regisseur Kirill Serebrennikov eine wütend machende Vorlagen-Folie, die in der Krisen-Region blieb und ganz nah bei den aktuellen Tragödien.

Also: der New Yorker Plenarsaal des UN-Sicherheitsrats statt der Tempel in Jerusalem. Hier wie dort: Gesten, Palavern, viel Ohnmacht. Jetzt eine kalter Machtpoker-Partie vor TV-Kameras. Und zur Einstimmung ein Bild-Bombardement: Populisten aller Länder werden in Videos ihrer Demos zum grenzübergreifenden Grundrauschen des Unmenschlichen vereinigt. Während die einen noch Reden schwingen, schwingen die anderen Fahnen.

Regisseur Serebrennikov selbst Opfer von Staatsgewalt

Geschichte wiederholt sich, sagt uns das. Gefangene werden gemacht, stündlich. Menschen sterben, täglich, weil es ihnen nicht genügt, dass nur ihre Gedanken noch frei sind. Und dass Serebrennikov selbst ein Opfer von Staatsmacht ist, seit Monaten in Moskau im Hausarrest, verleiht dieser dennoch vollendeten Inszenierung eine Eindringlichkeit, die man mit allen schlauen Fußnoten der Welt nicht herbeidramaturgisieren könnte.

Da nicht alles aus der Text-Vorlage zum Update passt, hat Kirill Serebrennikov in den Sitzungssaal und die Politikerbüros Schriftbänder installiert, über die als „Breaking News“-Banderole anpassende Kommentare, Erklärungen und Zitate laufen, bei denen die Grenzen zwischen „Tatsächlich wahr“ und „Das muss ein Fake sein“ erschreckend schnell verschwimmen.

Sein Nabucco, den Dimitri Platanias mit satter, sanfter Kraft herausragend beeindruckend ins rechte Licht stellte, ist als Abziehbild etlicher Autokraten sofort zu erkennen: Tarn-Anzug aus gutem Stoff, um den dreckigen Krieger darunter zu verstecken. Dröhnen, drohen, durchdrehen als Politik-Stil. Aus dem gleichen fauligen Holz hat die Regie Nabuccos Amtsentheberin Abigaille geschnitzt. Als Giftspritze im Business-Kostüm singt Oksana Dyka diese First Daughter grell und garstig, doch oft übertrieben harsch.

Nabucco: „Make Baal Great Again“

Aus diesem Gefeilsche um Einfluss entwickelt sich schnell eines jener Polit-Dramen, bei denen jeder gegen jeden handelt oder anbandelt. Da arbeitet die Regie solide die Konflikte und Wendungen ab, bis ins Finale. Doch zuvor befördert sich Nabucco, wie es sich für amtliche Despoten gehört, bei erstbester Gelegenheit von Chef zu Gott.

Der Original-Blitz, der ihn dann trifft, wird allerdings zum Schlaganfall modernisiert und Abigaille zögert keinen Moment, nach der Devise „Make Baal Great Again“ weiterzumachen, wo ihr Vorgänger vom Schicksal ausgebremst wurde.

Und dann waren da diese Bilder und diese so ganz andere Musik. Während der Umbaupausen traten der Oud-Spieler Abed Harsony und die Sängerin Hana Alkourbah, beide aus Syrien, vor den schwarzen Vorhang, auf den erschütternde Bilder von Leidenden und Fliehenden projiziert wurden.

Bilder von zertrümmerten Städten und pulverisierten Lebensträumen. Sie sangen stolze, traurige Lieder über ihre Heimat, jene Herzens-Region, über die Verdi 1842 seinen Gefangenenchor „O mein Vaterland, du schönes, verlorenes“ singen ließ. Weil er so schön ist und eben auch das genaue Gegenteil, gab es diesen Chor gleich zweimal.

Zunächst im Original im Bühnenbild und angekündigt von dem schlichten Satz „Das sind sie“. Seht hin, klang dort mit. Seht nicht mehr weg. Wenig später wurde er von einem Projektchor aus Flüchtenden gesungen. Niemand war Profi, jede Note wahr.

Dirigent Carignani spult Nabucco unter Wert ab

Dass aus dem mutigen und konzeptionell großen kein musikalisch großartiger Premieren-Abend wurde, lag vor allem am Dirigenten Paolo Carignani. Denn der schaffte es, nach der träge verstolperten Ouvertüre das Orchester im Unklaren darüber zu lassen, was er will und warum er weite Strecken so unter Wert abspulte.

Auch der Chor hatte mitunter mit Feinschliff zu kämpfen. So blieb es dabei, dass dieser „Nabucco“, am Ende einhellig bejubelt, seine stärksten, ergreifendsten Momente genau dort setzte, wo Verdis Original Generalpause hatte.

Die „#freekirill“-Demonstration von Serebrennikovs Mitstreitern um Co-Regisseur Evgeny Kulagin war das letzte Widerstandsymbol, bevor die Nachwirkungen dieser Inszenierung einsetzten.