Hamburg. Murat Yeginer, Künstlerischer Leiter der Traditionsbühne, trat nach umstrittener Wahl zurück. Wie er die Zukunft des Theaters sieht.

„Kiek mal achter de Kulissen!“ Wer dieser Tage eine reguläre Abendvorstellung am Ohnsorg-Theater besucht, dem flimmert auch diese Aufforderung von den Foyer-Bildschirmen entgegen. Mal hinter die Kulissen gucken – das ist am Ohnsorg-Theater im Moment gar nicht so einfach. Oder jedenfalls: keine ganz eindeutige Angelegenheit.

Denn genau dort, hinter den Kulissen, ist man seit einigen Tagen selbst um Übersicht und Schadensbegrenzung bemüht. Nach der Wahl von Sandra Keck, früher selbst Ohnsorg-Ensemblemitglied, zur Vorsitzenden des Vereins Niederdeutsche Bühne Hamburg und damit zugleich zur Aufsichtsratsvorsitzenden des Traditionstheaters, trat Murat Yeginer, seit 2018 Oberspielleiter des Ohnsorg-Theaters und seit Sommer 2022 Künstlerischer Leiter des Hauses am Heidi-Kabel-Platz, zurück.

Heidi Mahler, langjährige Ohnsorg-Schauspielerin und Tochter von Heidi Kabel, hat unterdessen ihre Bereitschaft bekräftigt, künftig in den Aufsichtsrat einzuziehen. Ihre Motivation: Im Ohnsorg, so erklärte es Mahler gegenüber dem Abendblatt, habe Hochdeutsch „nichts zu suchen“.

Die Auseinandersetzung verunsichert das Theater, das Publikum – und auch die Hamburger Kulturbehörde zeigte sich „besorgt“. Im Abendblatt spricht nun Murat Yeginer über die jüngsten Vorgänge, die Zukunft und die Zukunftsfähigkeit des Ohnsorg-Theaters.

Herr Yeginer, was ist da los am Ohnsorg-Theater?

Es haben Wahlen stattgefunden, das Ergebnis kennen Sie. Es heißt jetzt: Ruhe bewahren, Übersicht bewahren, sich nicht nervös machen lassen. Wir müssen gucken, dass wir das Schiff, das übrigens immer noch sehr, sehr gut fährt, auch weiter am Laufen halten.

Sie sind nach der Wahl von Sandra Keck spontan als Künstlerischer Leiter zurückgetreten. Gilt dieser Rücktritt auch heute noch?

Ja. Der gilt. Ich habe einen Vertrag bis Sommer 2024.

Den werden Sie noch erfüllen?

Genau. Danach werde ich nicht mehr als Künstlerischer Leiter zur Verfügung stehen. Ich lege mein Amt nicht vorher nieder, dazu verbindet mich viel zu viel mit dem Theater und auch viel zu viel mit dem Intendanten. Ich schmeiße nicht fahrlässig hin. Aber der Rücktritt war nicht vorbereitet, und er hatte natürlich einen kausalen Zusammenhang mit dem, was am Tag der Wahl passiert ist.

Murat Yeginer: „Meine Emotionalität bitte ich zu entschuldigen“

Was genau ist passiert, warum sind Sie zurückgetreten?

Wer wurde da gewählt? Geht es um künstlerische Differenzen oder geht es um Bilanzen? Ich hatte das Gefühl, es ging bei der Wahl der Vereinsvorsitzenden und damit der Aufsichtsratsvorsitzenden plötzlich um die künstlerische Ausrichtung. Aber es war weniger das Ergebnis der Wahl, das mich schockiert hat, es war der Weg. Es hat mich und viele andere völlig überrascht, da die Kandidatur erst in der Sitzung bekannt gegeben wurde. Ich habe einen Brief an die Belegschaft geschrieben, in dem ich noch einmal formuliere, für wie wichtig ich es halte, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen. Hand in Hand zu gehen. Meine Emotionalität bitte ich zu entschuldigen. Ich bin Mensch, ich bin Künstler, und ich bin auch emotional. Aber dem Haus will ich natürlich nicht schaden. Ich will, dass dieses Haus möglichst noch die nächsten 100 Jahre bestehen bleibt!

Gibt es eine Unzufriedenheit im Theater, die Sie unterschätzt haben?

Ich arbeite seit 45 Jahren am Theater – Unzufriedenheiten in einem Ensemble habe ich immer erlebt. Am Ohnsorg-Theater erlebe ich nun keine größere und keine geringere Unzufriedenheit als an anderen Theatern auch. Vielleicht aber ist die Konstellation hier – also die Vermischung von Aufsichtsratsvorsitz und Vereinsvorsitz – unglücklich. Nicht jeder in der Belegschaft ist übrigens Vereinsmitglied und war stimmberechtigt. Und nicht jedes Vereinsmitglied arbeitet am Ohnsorg-Theater. Und der Aufsichtsrat übt Kontrolle aus, ist aber nicht operativ tätig. Aber auch da wage ich keine Schlüsse zu ziehen. Sie merken, ich druckse ein bisschen herum. Ich liebe dieses Haus, und ich liebe das Ensemble. Ich möchte hier wieder Zuversicht und Vertrauen reinbringen.

Murat Yeginer: „Unsere Anschauungen, was Kunst betrifft, trennen sich radikal“

Wenn Sie Ihren Vertrag bis zum Sommer 2024 erfüllen – können Sie mit Sandra Keck zusammenarbeiten?

Wenn sie sich als Aufsichtsratsvorsitzende gemäß ihrem Aufgabenbereich künstlerisch nicht einmischt – ja. Sonst will ich es nicht. Unsere Anschauungen, was Kunst betrifft, trennen sich radikal.

Was ist aus Ihrer Sicht das, was das Theater jetzt am dringendsten braucht?

Vertrauen und Zuversicht.

Sandra Keck war viele Jahre lang Ensemble-Mitglied des Ohnsorg-Theaters. Unlängst hat sie sich überraschend zur Vorsitzenden des Vereins Niederdeutsche Bühne Hamburg wählen lassen und ist damit zugleich Aufsichtsratsvorsitzende der Traditionsbühne. Das löst am Ohnsorg heftige Verwerfungen aus.
Sandra Keck war viele Jahre lang Ensemble-Mitglied des Ohnsorg-Theaters. Unlängst hat sie sich überraschend zur Vorsitzenden des Vereins Niederdeutsche Bühne Hamburg wählen lassen und ist damit zugleich Aufsichtsratsvorsitzende der Traditionsbühne. Das löst am Ohnsorg heftige Verwerfungen aus. © Andreas Laible | Andreas Laible

Ist verloren gegangenes Vertrauen wiederherstellbar?

Wir arbeiten ganz stark daran. Der Wunsch, dass wir zusammenfinden, ist bei allen vorhanden. Wir müssen einen Weg finden. Wir werden es auch schaffen. Das Ohnsorg-Theater hat schon ganz andere Transformationen hingekriegt. Wir haben schwere Jahre hinter uns, aber wir haben übrigens alle Arbeitsplätze durch die Pandemie hindurch erhalten. Es ist nicht der Zeitpunkt der Lagerbildung, sondern des Zusammenhalts! Allein sind wir aufgeschmissen, das ist meine tiefste Überzeugung.

Kritik entzündet sich am Weg, weniger rein plattdeutsche Stücke zu zeigen, mehr Hochdeutsch in den Spielplan zu holen. Verstehen Sie die Angst, die damit zum Beispiel bei Heidi Mahler verbunden ist?

Wir hatten vier von sechs rein plattdeutsche Neuinszenierungen in dieser Spielzeit. Den höchsten Hochdeutsch-Anteil hatte „Das Feuerschiff“ – ein Stück, das fantastische Publikumsreaktionen hervorgerufen hat. Da kann man doch eins und eins zusammenzählen. Auch das Ohnsorg Studio arbeitet ja mit zweisprachigen Stücken. Einer der größten Erfolge war vor Kurzem das Stück „Altes Land“ nach dem Roman von Dörte Hansen. Es war immer ausverkauft. Auch dieses Stück kombiniert hochdeutsche und plattdeutsche Passagen. Es sei mir die Naivität gestattet zu fragen: Wo ist das Problem? Die Zeit hat sich verändert. Wir leben in einer anderen Zeit. Die Zuschauer, die wir kriegen wollen und begeistern müssen, verändern sich auch.

Haben Sie das Gefühl, das Ohnsorg-Theater ist durch die jüngsten Ereignisse gefährdet?

Nein. Es ist ein Traditionshaus voller Leidenschaft. Das Theater wird es überleben. Die Kulturbehörde steht auch eindeutig hinter dem Weg, den wir gehen. Wir möchten hier nicht alles explodieren lassen.

Suchen Sie das Gespräch mit Sandra Keck?

Sollte sie auf mich zukommen: Natürlich spreche ich mit ihr. Aber ich hatte auch mit ihren beiden Vorgängern im Aufsichtsrat nie ein Gespräch. Meine künstlerische Arbeit steht für sich. Meine Konsequenzen habe ich gezogen. Diese Entscheidung ist natürlich keine gegen Michael Lang, das sage ich hier noch einmal ganz ausdrücklich. Alles andere wird die Zeit zeigen.