Hamburg. Jan Josef Liefers, Sven-Eric Bechtolf und andere Weggefährten kamen zur Erinnerungsgala für Jürgen Flimm ins St. Pauli Theater.

Früher war mehr Exzess. Dieser Sehnsuchtsseufzer ist nicht zu überhören. Und warum hat man also nicht einfach weitergemacht, damals? Immer weiter, immer toller: Inszenierungen, die in die Theatergeschichte eingehen (weil sie überwältigen oder das Zeug zum anständigen Skandal haben), Schauspieler, die geliebt, wilde Feste, die gefeiert werden. Und Jürgen Flimm mittendrin. Wenn das Ensemble bloß rechtzeitig reagiert hätte – der Lauf der Welt wäre ein anderer. Wenigstens der Lauf der Theaterwelt, wenigstens der Lauf der Hamburger Theaterwelt!

„Wir hätten das Thalia besetzen sollen!“, ruft Sven-Eric Bechtolf ins St. Pauli Theater, und die Zustimmung ist mehr als nur spürbar. Es ist das Finale eines langen, rührenden, lustigen, traurigen, ganz und gar angemessenen Abschiedsabends für den im Februar gestorbenen Theatermacher Jürgen Flimm, zu dem sich auf Einladung von Ulrich Waller zahlreiche Freundinnen und Freunde, Weggefährten und Mitstreiter auf der Bühne des St. Pauli Theaters versammelt haben. Weil es das letzte Hamburger Theater war, an dem Flimm gearbeitet hat, auch wenn seine Produktion „Gefährliche Liebschaften“ am Ende nie herauskam.

Sven-Eric Bechtolf entwirft ein Land, in dem er selbst Kultursenator wäre

„Wir hätten das Thalia besetzen sollen! Zur Not bewaffnet!“, ruft Sven-Eric Bechtolf also, der bei Flimm zuletzt den Verführer Valmont geprobt hatte, und das Gejohle muss bis ans Alstertor zu vernehmen sein. „Kein Khuon, kein Lux, keine Anders! Wir müssen ,Die Wildente’ wieder aufnehmen!“

Bechtolf entwirft ein hemmungsloses, nostalgisches Konjunktiv-Land, in dem der einstige Thalia-Geschäftsführer Ludwig von Otting Hamburger Bürgermeister wäre, Bechtolf selbst Kultursenator, und Bob Wilson wäre sonntags vom Michel zu hören. Das wäre ein Lachen und ein Rauchen und ein Streiten und ein Vertragen!

Jürgen Flimm stand einst mit dem jungen Marius Müller-Westernhagen vor der Kamera

„Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern“, zitiert Waller zum Aufwärmen Immanuel Kant. Aber nicht einmal fern scheint Flimm, der die Bühne im Alter von 81 prall gefüllten Jahren doch eigentlich verlassen hatte, an diesem Abend.

Er ist präsent in Fotos, Anekdoten und auch in Bild- und Tonausschnitten, aus dem Fernsehfilm „Der Unfall“ zum Beispiel, für den er Ende der 1960er-Jahre neben einem blutjungen Marius Müller-Westernhagen vor der Kamera stand. Ohne Bart, umso mehr Brille.

Als ausgelassenen Animateur zur Eröffnung seiner Thalia-Intendanz 1985 (30.000 Besucherinnen und Besucher!) sieht man ihn ebenso souverän wie im Interview oder nach dem Abbruch einer Filmpremiere auf Kampnagel, wo 1986 die Uraufführung seines Films „Stammheim“ abgebrochen werden musste. Zu viele Stinkbomben. Früher war mehr Exzess!

Früher war mehr Entgrenzung zwischen Beruf und Privatleben

Ganz sicher war mehr Entgrenzung zwischen Beruf und Privatleben. „Das, was er an Empfindungen ausgelöst hat, das schwingt weiter in dieser Stadt“, sagt Christoph Bantzer mit sanfter Zärtlichkeit. Sein anfangs tastender Auftritt gehört am Sonntag zu den eindrücklichsten Szenen: Um über die kleine, steile Holztreppe auf die Bühne des St. Pauli Theaters zu gelangen, braucht der 87-Jährige Hilfe – aber die Endungen in seinen Sätzen sind noch immer vorbildlich, das gesprochene „t“ am Ende eines „und“ knallt bis in den Rang.

Hier treffen Schauspielerinnen und Schauspieler einer Bühnengeneration aufeinander, die verwundert fragen, ob sie denn wirklich ein Mikrofon brauchen? „Adieu, Jürgen!“ ist auch eine Zeitreise: Wie Peter Zadek da in Angeberpose mit Sonnenbrille herummackert, wie Wolf-Dietrich Sprenger erzählt, dass ihm Bantzer mal so eine geknallt hat auf der Bühne, „dass ich operiert werden musste“, wie Ludwig von Otting gesteht: „Ich hasse es, Verträge zu machen!“

Jürgen Flimm kümmerte sich um das Ensemble: „Ich küsste und streichelte.“

Wie Techniker und Vorderhausmitarbeiter schwärmen, dass der Flimm ihre Namen kannte. Wie sich Stars wie Martina Gedeck, Burghart Klaußner oder Hildegard Schmahl abwechseln. Wie der Schauspieler Stefan Kurt aus Flimms im kommenden Jahr erscheinender Autobiografie über die missglückte Vorpremiere von „Black Rider“ liest, für die in letzter Minute hektisch neue Songs von Tom Waits geschrieben wurden, während der Intendant sich um das verunsicherte Ensemble kümmerte: „Ich küsste und streichelte.“

Nicht nur Flimm wird hier zum Leben erweckt, auch Will Quadflieg, Hans Christian Rudolph, Jürgen Gosch – und eine Zeit, in der der damalige DDR-Schauspieler Jan Josef Liefers ein Hamburg-Gastspiel gab. Jürgen Flimm, so erzählt es Liefers am St. Pauli Theater, sorgte persönlich dafür, dass er mit einer modernen medizinischen Spreizschiene für seine kleine Tochter zurück in den Osten fuhr: „Ich weiß bis heute nicht, wer das bezahlt hat.“

Liefers kam später als festes Ensemblemitglied ans Thalia Theater und sieht das noch heute als entscheidende Karrierewende: „Den Münster-,Tatort’ gäbe es so nicht, wenn ich nicht vier Jahre durch diese Thalia-Mühle gedreht worden wäre.“

„Und deswegen ist der Jürgen eben nicht tot!“, heißt es irgendwann fast trotzig. Am Ende gibt es noch einmal Standing Ovations für ihn. Jürgen Flimm blickt in Schwarz-Weiß von der Leinwand, stumm diesmal und vielleicht ein klein wenig spöttisch. Er sieht ganz zufrieden aus.