Hamburg. Solist Edvin Revazov bietet ukrainischen Tänzerinnen und Tänzern eine künstlerische Heimat. Freitag ist Premiere im First Stage.
Edvin Revazov hält sich am frühen Morgen an einer Kaffeetasse fest. Der Energiebedarf ist womöglich etwas größer als sonst: Der Erste Solist gilt als einer der beliebtesten Tanz-Stars des Hamburg Balletts John Neumeier, derzeit trainiert er unter anderem „Matthäus-Passion“ und „Liliom“, auch in „Dona Nobis Pacem“ war er dabei. Doch seit Kurzem hat er noch einen weiteren Job. Edvin Revazov ist künstlerischer Leiter des von ihm neu gegründeten Hamburger Kammerballetts. Zeit für ein Gespräch findet er nur vor einem langen Probentag.
Warum haben Sie das Hamburger Kammerballett gegründet?
Im Prinzip geht es darum, den ukrainischen Tänzerinnen und Tänzern eine künstlerische Heimat zu bieten, damit sie weiter die Möglichkeit haben, auf der Bühne zu arbeiten und zu experimentieren. Ihre Kunst auszuüben.
Sie haben bereits im vergangenen Jahr ein starkes Engagement für Tänzerinnen und Tänzer des Ukrainischen Nationalballetts Kyiv gezeigt, die mehrfach auf Kampnagel aufgetreten sind. Warum liegt Ihnen das Thema am Herzen?
Ich komme selbst von der Krim und habe Freunde und Verwandte dort. Ich habe hier 2001 mit dem Studium an der Ballettschule begonnen und arbeite mit John Neumeier seit über 20 Jahren. Für mich war es ein riesiger Schock, dass so etwas in dieser Zeit überhaupt passieren kann. Dass ein Land ein anderes in Europa angreift. Ich möchte den davon betroffenen Künstlerinnen und Künstlern nicht nur eine berufliche Heimat bieten, es geht auch um Zusammenhalt und Solidarität.
Hamburg Ballett: Tänzerinnen und Tänzer kommen aus Charkiw, aus Odessa, aus Lwiw
Wie haben Sie das Hamburger Kammerballett zusammengestellt? Wo kommen die Tänzerinnen und Tänzer her?
Nachdem ich im vergangenen Jahr mehrere Abende mit Tänzerinnen und Tänzern des Ukrainischen Nationalballetts Kyiv organisiert hatte, erhielt ich zahlreiche Anfragen von weiteren Tänzerinnen und Tänzern aus allen Teilen der Ukraine. Sie fragten, ob wir weitere Pläne hätten. Da habe ich entschieden, eine Ballett-Kompanie aufzubauen. Sie kommen aus Charkiw, aus Odessa, aus Lwiw. Eine Tänzerin aus Finnland hatte ein Engagement in der russischen Föderation und musste ebenfalls nach Hamburg fliehen.
Wie leben die Tanzschaffenden hier?
Die Familie Brinkmann hat mit der Stiftung St. Georg Möglichkeiten für Wohnraum geschaffen. Wir haben vier Tänzerinnen und drei Tänzer unterbringen können. Als Gäste werden in dem Programm weitere Tanzschaffende vom Ukrainischen Nationalballett Kyiv dazukommen.
Was wurde aus den Tänzerinnen und Tänzern des Ukrainischen Nationalballetts Kyiv?
Jeder Fall ist individuell. Einer ist nach Kanada zu seiner Frau gegangen, ein anderer hat hier eine Arbeit gefunden, zwei Tänzer sind zurück in die Tanzkompanie in Kyiv gegangen. Das Theater arbeitet dort weiter. John Neumeier hat mit „Spring and Fall“ ein Ballett entwickelt, das im Mai dort aufgeführt werden soll.
Wie finanziert sich das Hamburger Kammerballett?
Wir haben bereits Unterstützung von John Neumeier, vom Hamburg Ballett, von der Staatsoper Stiftung und vom Deutschen Bühnenverein bekommen. Unser jetziges Projekt „White Noise“ wurde zudem von der Hamburgischen Kulturstiftung gefördert. Für unser Training und unsere Proben dürfen wir die Räumlichkeiten im Ballettzentrum John Neumeier benutzen. Unser Ensemble darf auch das Training gemeinsam mit dem Hamburg Ballett absolvieren und am Abend dürfen wir dort unser Programm proben. Wir proben nach dem normalen Arbeitstag ab 18 Uhr. Gestern ging es bis halb elf Uhr. Ohne John Neumeier wäre die Umsetzungen unseres Projektes zum aktuellen Zeitpunkt sehr schwer und natürlich ist die Finanzierung nicht einfach. Wir müssen uns immer wieder um neue Förderungen und Sponsoren bemühen.
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Wie ist das Programm der ersten Aufführung entstanden? Sie haben ja die Choreografien als künstlerischer Leiter geschaffen.
Es hat zwei Teile. Der erste Teil heißt Britten-Tanz. Es zeigt klassische Techniken des Balletts in einer sehr expressiven Arbeit zur Musik des Komponisten Benjamin Britten. Für die zweite Arbeit „White Noise“ haben wir Alexander McKenzie als Komponisten engagiert. Das physikalische Phänomen des „Weißen Rauschens“ kann Störgeräusche abhalten und steht für die Hoffnung, Traumata zu überwinden und Frieden zu finden. Denn natürlich fühlen sich die Tanzenden wie im Niemandsland. Sie sind hier und doch nicht hier.
Wie sind Sie auf den Auftrittsort, das First Stage Theater gekommen?
Ich mag das Kammertheater sehr. Es ist ein sehr charmanter Ort und sie haben uns sehr freundlich aufgenommen. Da haben wir beschlossen, das Theater für unsere ersten Vorstellungen in Hamburg zu mieten. Es ist gar nicht so einfach in Deutschland kurzfristig eine Bühne zu finden.
Hamburg Ballett: Kooperation mit dem Bolzano Festival und Tournee geplant
Planen Sie eine Tournee?
Ja, es gibt bereits eine Kooperation mit dem Bolzano Festival und weitere Überlegungen für ein Festival in Neapel und einen Auftritt im Mai in Berlin.
Wie schaffen Sie das alles neben Ihrer nicht gerade kleinen Aufgabe als Erster Solist des Hamburg Balletts John Neumeier?
Es ist viel Arbeit, aber es ist auch ein Genuss mit den Tänzerinnen und Tänzern zu proben. Es ist immer eine Freude. Für mich ist es auch eine Notwendigkeit. Jeder Künstler braucht eine Aufgabe. Ich kann den Tänzerinnen und Tänzern eine Chance geben, ihre Gefühle in ihrer Kunst auszudrücken.
Welche Ziele verfolgen Sie mit dem Tanzensemble?
Wir wollen den Geflüchteten, die auch ihre Kompagnien verlassen mussten, eine Perspektive geben. Das ist im Augenblick das oberste Ziel. Sie alle haben acht Jahre Ausbildung hinter sich. Und hier haben sie nun die Chance, aufzutreten und ein Publikum zu finden.
Hamburger Kammerballett: „White Noise“ 14.4., 19.30 Uhr, 15.4., 14.30 und 19 Uhr, 16.4., 15 Uhr, First Stage Theater, Thedestraße 15, Karten unter T. 113 27 27; www.hamburger-kammerballett.de