Hamburg. Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja spricht im Interview über Angst, Fehler und normale Menschen. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund.

Während der Covid-Jahre war sie fundamental verunsichert. Jetzt ist die Geigerin Patricia Kopatchinskaja wieder reichlich unterwegs. Auf die Zoom-Einladung antwortet sie in Osaka, eine Japan-Tournee, nachdem sie zuvor mit Ingo Metzmacher und Schostakowitsch in Südkorea unterwegs war. Normaler Tournee-Alltag, eigentlich – wäre diese Geigerin nicht alles andere als normal. Das Gesprächs-Leitmotiv: Angst.

Hamburger Abendblatt: Ein schöner O-Ton von Ihnen: „Nur mit Frechheit, Mut und auch Angst macht man wirklich Fortschritte. Aber niemand hat mir diese Angst gemacht. Ich war ein sehr freies Kind.“ Wie groß ist Ihre Angst vor jedem Auftritt, wie wichtig – und wie richtig – ist das?

Patricia Kopatchinskaja: Je älter ich werde, desto mehr kann ich damit umgehen. Aber die Angst ist natürlich immer da. Sie heißt nur anders. Als klassische Musiker werden wir auf Perfektion gedrillt. Alles dreht sich darum, dass man keine Fehler macht. Als Kind ist das sehr einfach zu verstehen und die Angst richtet sich nach sehr einfachen Kriterien: nicht falsch spielen, nicht unrhythmisch. Dinge, die aber eigentlich mit der Musik nicht sehr viel zu tun haben. Bei mir jedenfalls hinterlässt es keinen Eindruck mehr, wenn jemand perfekt spielt. Dafür gibt es Schallplatten, die aber auch uninteressant sind. Die Ablieferung der Töne ist kein Stück. Das Stück findet woanders statt, auf einer ganz anderen Ebene.

Wo andere Angst sehen, empfindet Patricia Kopatchinskaja Vorfreude

Genießen Sie diese Angst? Es ist zwar ein fürchterliches Gefühl, aber es ist auch das tollste Gefühl, das man haben kann? Das ist das, wofür Sie leben?

Was Sie jetzt beschreiben, ist nicht Angst, es ist die Vorfreude. Und mir ist oft gelungen, aus dieser Not eine Tugend zu machen, so dass ich mir sage: Gut, du machst einen Fehler - so what? Das Wichtigste ist, dass ich die Leute erreiche und berühre. Dass ich das, was im Stück ist, soweit es meinem Intellekt, meinem Herz, meinem Können möglich ist, aus dem Papier heraushole. Aus den Tönen, auch aus der Konvention. Man muss die Menschen immer wieder frisch halten, ihre Ohren erfrischen. Dafür braucht es Mut. Wenn man jedes Mal gleich spielt, ist das Gehirn so programmiert, dass man nur spielt, was man vorbereitet hat. Da riskiert man nicht sehr viel.

Patricia Kopatchinskaja bei einem Auftritt in der Elbphilharmonie.
Patricia Kopatchinskaja bei einem Auftritt in der Elbphilharmonie. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Es braucht auch den passenden Partner auf der Bühne.

Partner, die einem folgen, mit Freude, ohne Angst. Wenn er sich fürchtet, ist es keine Improvisation mehr, nichts Spielerisches. Das ist auch im Leben so. Kinder zeigen es uns am allerbesten: Sind sie klein, haben sie Neugier und Freude an neuen Dingen. Sobald wir ihnen aber Angst machen – das müssen wir, wenn sie neugierig darauf sind, wie es ist, aus dem 10. Stock zu springen –, muss man über die Konsequenzen sprechen. Mut muss auch auf Vernunft basieren. Auf der Bühne passieren Dinge, die man nicht vorplanen kann. Man geht mit einem gewissen Arsenal von Können, Wollen, Vorstellen und Wissen auf die Bühne und dann backt man den Kuchen.

Für Patricia Kopatchinskaja ist die Freude an der Musik ihr Hauptantrieb auf der Bühne zu stehen

Was ist der wichtigste Antrieb fürs Musikerinnen-Sein? Die Suche nach Anerkennung, die Angst vor Einsamkeit oder die Freude an der Musik?

Freude an der Musik, auf jeden Fall. Es gibt noch einen Begriff, der etwas weiter geht: Das ist die Angst vor der Angst. Wenn man die Angst fürchtet, ist es schlimm. Aber als Begleiter ist sie fast ein Freund. Wenn man sehr hoch auf dem Drahtseil tanzt, ist die Angst ein Begleiter, und mit dem macht man Späßchen. Sobald Sie sich vor einem Konzert sicher fühlen, kann es nur schlecht laufen? Nicht unbedingt. Daran habe ich lange geglaubt – und zwar genau so lange, wie ich daran geglaubt habe. Aber als ich mir sagte ,Bist du eigentlich blöd?‘, ging es plötzlich auch so.

Ab wann haben Sie sich sicher gefühlt mit Ihrer Berufswahl und sich nicht mehr gefragt, warum Sie nichts Vernünftiges gelernt haben?

Mein Großvater sagte immer: Ihr wisst nicht, was Arbeit ist. Meine Eltern sind ja auch Musiker, meine Schwester ebenfalls. Wenn wir von Proben nach Hause kamen, ach, wir sind so müde, es tut uns alles so weh, wir müssen schlafen – da hat er immer gelacht. Er war Bauer und sagte: Die richtige Arbeit ist auf dem Feld. Für ihn war Musik ein Spaß, der bezahlt wird. Das ist mir geblieben und ich muss sagen, ich genieße es. Weil ich es nicht als Beruf ansehe, erscheint es mir sehr wichtig, diese Freude beizubehalten, Kind zu bleiben und mir das auch einzugestehen. Ich muss nicht erwachsen werden, überhaupt nicht.

Musik als Jugendelixier

Macht es das Leben für Sie einfacher oder schwerer, wenn Sie zu sich und zu anderen sagen können: In meinem Pass steht 46, aber innerlich bin ich 9, auf ewig?

Ja. Ich glaube, Musik hält jung, weil wir Gefühle nicht zurückhalten können. Es ist unser Beruf, hysterisch sein zu dürfen und überraschen zu müssen. Wir bezwingen ja auch unsere Ängste auf der Bühne, wie ein Dompteur, der mit echten, wilden Tieren arbeitet. Erst dann wird es richtig spürbar bedrohlich und gefährlich. Stellen wir einen ausgestopften Tiger auf die Bühne, macht der keine Angst. Diese Angst suche ich in der Musik, ich suche die Gefahr.

Was hilft Ihnen gegen die schlimmste, vielleicht klassischste aller Musikerängste, die Lampenfieber heißt?

Lampenfieber ist auch so ein lustiges Wort… Zu verschiedenen Zeiten in meinem Leben gab es verschiedene Versuche. Mal hat eine Banane geholfen, ich weiß auch nicht, warum. Ein Nickerchen vor dem Konzert war absolut obligatorisch. Am Ende gibt es keine Lösung, außer dass man erkennt, das ist okay und sagt: Ich liebe dich, Licht, Lampe, Fieber, Angst, das Nicht-Gelingen. Ich liebe euch alle, da in diesem Saal. Ich spiele für euch. Ich erzähle euch etwas und es geht nicht um mich. Das hat mir immer geholfen: Es geht nicht um mich, es geht um dieses Stück. Dafür bin ich da. Dafür vernachlässige ich mein Kind. Dafür bin ich nicht zu Hause. Ich bin auf dieser Bühne und begebe mich in Gefahr. Ja. Denn wenn ich schlecht spiele, werde ich nicht mehr eingeladen.

 Unter der künstlerischen Leitung von Patricia Kopatchinskaja spielen das Jack Quartett, das Ensemble der Lucerne Festival Alumni, Musiker der Hochschule Luzern und Posaunisten des Zentralschweizer Jugendsinfonieorchesters Luzern.
Unter der künstlerischen Leitung von Patricia Kopatchinskaja spielen das Jack Quartett, das Ensemble der Lucerne Festival Alumni, Musiker der Hochschule Luzern und Posaunisten des Zentralschweizer Jugendsinfonieorchesters Luzern. © Priska Ketterer/ Lucerne Festival | Priska Ketterer/ Lucerne Festival

Haben Sie Angst davor, irgendwann nicht mehr genügend Applaus - und damit nicht mehr genügend Liebe - zu bekommen? Oder ist das unkaputtbar, dieses Vertrauen, dass das alles schon laufen wird?

Es ist von Land zu Land unterschiedlich, wo man lauter oder länger klatscht. Ich finde so eine Reaktion auf ein Konzert sowieso absurd. Es muss nicht geklatscht werden. Zu gefallen ist nicht mein Ziel, weil es nicht um mich geht, sondern um ein Stück. Ein Stück kann durchaus hässlich und absolut unerträglich sein. Und es will auch nicht gefallen. Es wurde nicht deswegen geschrieben. Was es will, ist: anzukommen, erinnerbar sein, wertvoll zu sein, wichtig in diesem Moment. Es sucht die Zuhörerschaft und auch das Mitempfinden. Verschiedene Geister, die sich zusammentreffen oder aufeinanderprallen. Langsam habe ich das Privileg, in eine Situation zu kommen, wo man es mir gönnt oder von mir nicht erwartet, dass ich etwas liefere, was man schön verpackt nach Hause mitnimmt. Es ist eine Konfrontation, darüber kann man sprechen. Auch ein Konflikt ist ein Erfolg.

Ihre Mutter hat Ihnen gesagt, Sie sollten spielen, als wäre es der erste und der letzte Tag Ihres Lebens. Wie oft gelingt das und wie hält man das aus, wenn es gelingt?

Wie der letzte Tag? Ich weiß nicht, ob mir das gelungen ist, ich spiele immer noch. Aber wie das erste Mal, das gelingt mir, glaube ich, sehr oft. Weil ich eine natürliche Fähigkeit habe, Dinge zu vergessen. Also es ist immer wieder neu. Und auch die Partner, mit denen ich zusammenspiele, die wissen, dass es anders sein wird… Was möchte ich eigentlich bei meinem Tod? Wenigstens den Gedanken haben, dass zumindest einiges, was ich gemacht habe, nicht umsonst war. Ich habe nicht die hohe Erwartung, etwas für die Kunst getan zu haben. Einfach einige gute Geschichten erzählt zu haben, genügt mir schon.

Patricia Kopatchinskaja lebt für die Abwechslung

Gibt es auch die Angst, dass Ihnen zu einem Stück nichts mehr einfällt und Sie gar nicht mehr wissen, warum es sich lohnen sollte, es zu spielen?

Deswegen spiele ich auch sehr viele verschiedene Stücke und sehr viel neue Musik. Damit mir nicht langweilig wird. Ravels „Tzigane“ habe ich schon sehr oft gespielt, im Concertgebouw in Amsterdam habe ich das Publikum befragt: Welche möchten Sie hören? Es gäbe folgendes: im Stil von Picasso, von Kandinsky, von Chagall. Also, bitte, machen wir jetzt eine Abstimmung. Das war sehr lustig, die Leute haben sehr aktiv reagiert und Chagall hat gewonnen. Dann hat man sich diesen fliegenden Geiger vorgestellt, wie der das Stück spielt. Es war sehr spannend.

Vielen Musiker und Musikerinnen haben viele sonderbare Sensoren, aber auch viele riesige Sensoren für die Gegenwart. Sie stehen manchmal etwas quer zum „normalen“ Leben. Wie kommen Sie damit klar, dass so viele Menschen so viel „normaler“ sind als Sie?

Ich weiß es nicht. Zu normalen Menschen habe ich auch nicht so viel Kontakt. Ich weiß nicht, ob meine Tochter sehr normal ist. Ich hoffe, sie wird Kunst machen, das ist die einzige Branche, wo sie damit durchkommt, wie sie ist. Ich glaube, man kann sehr glücklich sein, wenn man normal ist und einen Alltag hat. Das ist so eine Vorstellung von mir. Auch die Verdauung wäre vielleicht viel besser, wenn man nicht so viel reist. Wenn man kochen kann, könnte man viel gesünder leben als ein Musiker, der die ganze Zeit woanders ist. Ich kann wirklich nichts in der Küche.

Patricia Kopatchinskaja liebt es mit ihrer Geige zu musizieren.
Patricia Kopatchinskaja liebt es mit ihrer Geige zu musizieren. © Marco Borggreve | Marco Borggreve

Sie merken aber schon, dass Ihnen Menschen manchmal sonderbar vorkommen, obwohl sie in der Regel halbwegs normal sein dürften?

Eigenartige Menschen habe ich sehr gern, und normale finde ich auch sehr eigenartig. Sehr viele Leute sehen normal aus und leben ein normales Leben, sind aber viel vielschichtiger. In jedem Orchester gibt es typische Figuren. Einer sammelt die verrücktesten Sachen, Uhren oder alte Radios. Dann gibt es immer jemanden, der total hysterisch ist. Und Leute, oft Blechbläser, die etwas super Normales machen.

Sind Sie mutiger unterwegs als viele andere, weil Sie genauer wissen, was Angst ist, weil Sie ja täglich mit ihr zu tun haben? Man könnte auch anders durchs Leben gehen, weil man weiß: Ich habe bei vier Konzerten viermal pro Woche Angst. Ich komme aber auch viermal pro Woche damit klar.

In der Musik fühle ich mich komplett sicher, wie ein Fisch im Wasser. Im Privatleben bin ich eine sehr ängstliche Person. Diese Angst habe ich nicht in der Musik, weil ich damit sehr oft konfrontiert bin. Sie ist mein Freund geworden, die Angst. Im normalen Leben habe ich wahnsinnig Angst: dass ich nicht genug Steuern gezahlt habe, dass ich irgendwelche Rechnungen noch zu zahlen habe, dass ich nicht die richtigen Produkte gekauft habe und jetzt kann man schon wieder nichts kochen. Überall lauert die Angst auf mich, in Dingen, mit denen ich keine Erfahrung habe.

Patricia Kopatchinskaja sorgt sich um ihre Familie in Moldawien

Haben Sie Angst davor, als Musikerin irgendwann mal nicht mehr gebraucht oder gewollt zu werden?

Diese Angst ist unnötig. Wenn man mich nicht mehr braucht, wird es so sein und dann kann man nichts machen. Man muss sich amüsieren, seine Interessen und seinen Geist wachhalten, auch mit der Zeit mitgehen. Vielleicht will man mich einmal in dieser Rolle nicht mehr, dafür in einer anderen. Aber ich denke, meine Angst ist primär im privaten Leben, weil ich ein Flüchtlingskind bin. Wir sind aus Moldawien nach Österreich geflüchtet. Die Heimat zu verlieren, die Sicherheit, die Sprache, die Gemütlichkeit des Wissens, was morgen kommt - das war alles nicht mehr da. Da musste ich schon für mich selbst schauen und das ist für immer geblieben. Es ist wie ein Boden, der nie ruhig ist. Ich glaube, das ist auch in meinem Spiel immer vorhanden.

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  • Wie sehr treibt Sie die Situation in Moldawien um? Sitzt ein Teil von Ihnen innerlich immer vor den Nachrichten und verfolgt, wie es in dem Land geht, aus dem Sie stammen, wie es mit Transnistrien, der Ukraine und Russland weitergeht?

    Es ist ein schrecklicher Zustand für alle, es geht uns alle an. Ich bin immer in Kontakt mit meiner Cousine, sie macht Fotos und sagt, schau mal, es ist alles gut, es gibt keine Demonstrationen. Und trotzdem hat man diese große, große Sorge. Und eigentlich ist man nicht überrascht. Wir haben es gewusst und gespürt, dass auf die Demokratie in Russland kein Verlass ist. Die Gesellschaft war zu gespalten. Zu viel Propaganda. Die Menschen sind uneinig. Die Armen sind zu arm. Die Reichen sind zu reich. Es war alles absolut klar. Und wenn ich jetzt auf der Bühne stehe und spiele, ist diese Verzweiflung und Gewissheit dabei: dass die Welt sich nicht verändert und man nichts aus der Geschichte gelernt hat. Das alles fließt in die Töne hinein.

    Konzert: 18.4., 20 Uhr: „maria mater meretrix“, ein Mosaik von Hildegard von Bingen bis György Kurtág. Patricia Kopatchinskaja (Violine), Anna Prohaska (Sopran), Ensemble Resonanz. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Aufnahme: Janacek / Brahms / Bartók. Werke für Violine und Klavier. Patricia Kopatchinskaja (Violine), Fazil Say (Klavier) (alpha, CD ca. 17 Euro)