Hamburg. In „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ geht es um Tod und Unsterblichkeit – und der “Morgenstern“-Zyklus ist noch nicht vollendet.

Der Mai ist im Knausgård-Kalender aus Hamburger Sicht besonders interessant. Da steht die Premiere der Schauspielhaus-Version von „Der Morgenstern“ an. Eh klar, wie fordernd für die Adapter (Bearbeitung Armin Kerber, Regie Viktor Bodo) der 2022 auf Deutsch erschienene Schocker-Schinken ist. 900 Seiten auf der Bühne, da ist Entschlacken angesagt.

Karl Ove Knausgårds neues Buch auf Deutsch, „Die Wölfe aus dem Wald der Einsamkeit“, ist die mehr als 1000 Seiten dicke nächste Lieferung der fortwährend laufenden Knausgård-Produktion und gleichzeitig die „Morgenstern“-Fortsetzung. Der literarische Marathon-Mann aus Norwegen ist der Schriftsteller des seriellen Erzählens: In seiner Muttersprache ist bereits der dritte Band des aktuellen, auf fünf Bände angelegten Zyklus erschienen.

Karl Ove Knausgård: Alltagsszenen ins kaum Ermessliche gedehnt

Er heißt, das nur nebenbei, „Det tredje riket“ („Das dritte Reich“) – eine Wiederauflage des Knausgårdschen Nazi-Spleens. Sein berühmter Ego-Zyklus trägt bekanntlich im Original den Titel „Min kamp“ („Mein Kampf“). Was insofern Sinn ergab, als die sechs Bände das zähe und zermürbende Alltagsbemühen eines Künstlers, Ehemanns, Vaters und Sohnes schilderten.

Um Alltag geht es auch in „Die Wölfe aus dem Wald der Einsamkeit“, dem zweiten Band des neuen Zyklus. Die bedrohliche sternenhafte Erscheinung am Himmel spielt auch im neuen Buch eine Rolle: Unmittelbar an Band eins schließt der Text am Ende an, als die dominierende Romanfigur im Jahr 2023 ins heiße Moskau reist, um dort seine ihm lange unbekannte Schwester zu treffen.

Tod und Unsterblichkeit als große Themen

Knausgårds Vermögen, Alltagsszenen ins kaum Ermessliche zu zerdehnen und dabei diesen oft unterschätzten genuinen Stoff der Literatur dennoch fesselnd ins Werk zu setzen, wurde oft gepriesen. Knausgård zu lesen, das bleibt die selten intensive, einen für die Außenwelt einstweilen untauglich machende Erfahrung. In „Die Wölfe aus dem Wald der Einsamkeit“ geht es um Tod und Unsterblichkeit, zwei der großen Themen Knausgårds. Ein anderes ist Familie, und in die tauchen Leserinnen und Leser im ersten, den größten Platz beanspruchenden Roman-Teil ein.

Syvert, fast 20, kehrt 1986 vom Militärdienst zu Mutter und Bruder nach Bergen zurück. Er trudelt durch die Tage, weiß nicht so recht, wohin mit sich, bevor er ein Studium aufnehmen möchte. Er fühlt sich für seinen Bruder verantwortlich, besonders nachdem die Mutter wegen einer dringenden Operation ins Hospital eingecheckt hat. Und er verliebt sich in Lisa. Wenn man als Leser die bedrohliche Atmosphäre aus dem „Morgenstern“ mit in diese neue Lektüre transportiert hat, kann man nicht anders, als auch hier banger Erwartung zu sein – ganz ohne Horrorelemente: Wird Syvert, der schließlich eine Arbeit in einem Bestattungsinstitut aufnimmt, bei Lisa landen? Und wird seine Mutter überleben?

Reaktorkatastrophe, Russland und unklare Familienverhältnisse

Mit dem Tod kennt Syvert sich aus, sein Vater starb, als er zwölf war. Der Roman ist multiperspektivisch wie der Vorgänger. Wie Syvert sen. – er trug tatsächlich denselben Namen – zu Tode kam, erzählt gleich zu Anfang eine Figur namens Helge in der Gegenwart mit Blick auf seine Kindheit. 1977 kam er zur Bucht und sah ein versinkenden Fahrzeug. Mit dem sterbenden Mann, der eine Frau und zwei Söhne zurücklassen sollte.

Als der junge Syvert, der seit langem Halbwaise ist, in Bergen versucht, sich eine Perspektive zu schaffen, kommt es zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Warum begegnet ihm sein Vater im Traum? Was ist Radioaktivität? In der alten Kiste mit Vaters Sachen in der Garage findet Syvert Briefe auf Russisch. Und so fächert Karl Ove Knausgård seine Erzählung dann auf: Syvert erfährt, dass er in Russland eine Halbschwester namens Alevtina hat. Auf deren Spuren wandelt der zweite Teil. Man taucht ein in ihren Kosmos, in eine russische Welt mit Künstlern und unklaren Familienverhältnissen.

Autor nutzt Zeitsprünge als Stilmittel

In ihrer Erzählgegenwart besucht Alevtina mit dem erwachsenen Sohn ihren Vater, der 80 wird. Er ist nicht ihr biologischer Erzeuger. Knausgårds Kunst ist es, in Zeitsprüngen und mit Dialog-getriebenem Emplotment seine Figuren auszubreiten. Wobei er aufgrund der Ich-Perspektive für manche Unzuverlässigkeiten sorgt. Man muss sich auf die Protagonisten auch selbst einen Reim machen.

Alevtina ist Biologin, die über Bäume forscht und wie der Wald kommuniziert (hat Knausgård Peter Wohlleben gelesen?). Sie hat eine Freundin, die als nächstes den Blick des Lesers lenkt. Vasilisa ist eine eigenbrötlerische Lyrikerin mit philosophischen Interessen.

Der Norweger überzeugt mit einzigartigem Schreibstil

Keine Frage, dass Knausgård (man denke etwa an seine Erörterungen zu Hitler in „Kämpfen“) ein ideengeschichtliches Essay Vasilisas in den Fluss seiner Erzählung einschiebt. Quasi als trockenes Störelement. Aber Geist muss sein, Geist ist das Fundament seines sonst so, oberflächlich betrachtet, anspruchslosen Erzählens. Nikolai Fjodorow, der russische Denker aus dem 19. Jahrhundert, der den Tod überwinden wollte und Ewigkeit predigte, ist Vasilisas Leitstern.

Im letzten Teil treffen die Geschwister in Moskau aufeinander. Knausgård ist der perfekte Erzähler, um die Menschlichkeit dieser ersten Begegnung in Szene zu setzen. Überhaupt ist er, das zeigt die Grenzen verschiebende Konstruktion dieses Buchs, ein singulärer Erzähler. Keiner schreibt wie er.

Knausgård: Die Frage nach der Notwendigkeit des Todes

Man könnte nun, mit den Hinweisen, die dieser zweite Band des Zyklus auslegt, spekulieren, worauf seine rätselhafte Geschichte hinausläuft. Die Frage nach dem Werk des Teufels(?), die der erste Band stellte, wird um die nach der Notwendigkeit(?) des Todes erweitert. Wie welthaltig das Schreiben Knausgårds ist, ist erneut scharf konturiert. Seine Themen haben allgemeingültige Relevanz. Zuletzt interessierte er sich für die deutsche Geistesgeschichte, nun und obwohl er vom Krieg beim Beginn der Niederschrift nichts wissen konnte, ausgerechnet für Russland.

Das neue Buch hat einen Top-Cliffhanger. Hoffentlich erscheint der nächste Band schon bald.