Hamburg. Nein, es handelt sich um den Norweger Karl Ove Knausgård. Sein neuer Roman allerdings (900 Seiten!) ist allerfeinste Horrorware.
Dieser Mann ist der Erfinder des Superzeitlupenthrillers. Seelische Vorgänge sind nun mal auf Dauer angelegt, und ein Leben ist lahm, wenn man es in seiner Alltäglichkeit schildert. Und dann auch noch in sechs Bänden und auf mehr als 3000 Seiten. Es war 2011, auch schon mehr als ein Jahrzehnt her, dass der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård mit seiner Tour de Ego-Force „Min kamp“ („Mein Kampf“) beendete. International kam der Erfolg zeitversetzt, aber auch gewaltig: Knausgård war der aufregendste Autor der Stunde.
Weil er darüber schrieb, wann er sich die wievielte Zigarette des Tages ansteckte und warum er wann mal wieder heulen musste. Das Leben in der Mittelschicht mit Eltern und ihren Problemen und später dann einer eigenen Ehe mit Problemen, und dann auch noch das Künstlersein: eine tränentreibende Arbeit. Die „New York Times“ schrieb, man wolle Knausgård permanent eine Kleenex-Box reichen. So oder so blieb man bei seinem radikalen autobiografischen Projekt als Leser immer dran, Knausgård war ein Suchtmittel, das Fesselnde war das Leben selbst; man las gebannt.
Auch in seinem kürzlich erstmals in einer deutschen Ausgabe erschienenen Debüt „Aus der Welt“ (im Original von 1998) tauchten Schnipsel aus der eigenen Biografie auf. Und sein Selbstenthüllungs-Sextett war ein Roman eigenen Rechts, während „Alles hat seine Zeit“ (2004) die Bibel nacherzählte.
Knausgårds Neuer Roman „Der Morgenstern“
Nun gibt es endlich einen neuen Roman des mittlerweile in London residierenden Autofiktionskönigs. Er heißt „Der Morgenstern“. Er ist ein ganz und gar typischer Knausgård. Ellenlang, knapp 900 Seiten in der Übersetzung. Viel Familienkram und Alltagsstress des modernen Menschen. Niedriggängige formale Ambition, was die Ausgestaltung des Szenen angeht. Locker gewebte Literatur, dann wieder essayistische Dichte. Religiöses Klimbim. Geht ja los mit einem Bibelzitat, das dem Roman vorangestellt ist: „Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden, sie werden begehren zu sterben und der Tod wird vor ihnen fliehen.“
Dann ist da noch das übernatürliche, mehr als nur surreale Setting. Es ist nicht nur ein neuer Stern am Firmament zu sehen, der die nordische Sommernacht erleuchtet und grell in die Seelen der neun hier auftretenden Protagonistinnen und Protagonisten. Ein Wesen, menschenähnlich, aber nicht ganz Mensch zieht durch die Stadt Bergen und ihre Umgebung, in der der Roman spielt. Eine schaurige Kreatur, die Kinder erschreckt und die an verschiedenen Orten gleichzeitig zu sein scheint. Außerdem werden hier Kätzchen geköpft, und ganz allgemein durchzieht ein Grauen den Text. Bist du es, Stephen King?
Die Fülle des familiären Fühlens
Sagen wir so: Der neue Knausgård ist jedenfalls allerfeinste Horrorware. Unter anderem. Er interessiert sich für den Tod und die Transzendenz, höhere Mächte, für existenzielle Fragen, das Leben und das Sterben, für die Hinfälligkeit des Menschen, für das In-der-Welt-Sein und das Noch-nicht-ganz-aus der Welt-Sein. Für das Leben nach dem Tod. Für das, was passiert, wenn die natürliche Ordnung verrückt wird. Wenn Krabben plötzlich auf dem Land rumlaufen und ein Toter, dem die Organe entnommen werden sollen, schockierenderweise die Augen öffnet.
Die Frau, die diesem unerklärlichen eine Ereignis bewohnt, ist Solveig; eine Krankenschwester, die bei schwierigen OPs dabei ist. Und eine Tochter, deren Mutter Parkinson hat. Deren eigene Tochter ihr entfremdet ist: In einer typisch knausgårdschen Personenaufstellung geht es um die Fülle des familiären Fühlens, hier in der mit viel Aufwand und Großzügigkeit, die sich Knausgård einmal mehr gewährt, ins Werk gesetzten Form der Bedrohung.
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Solveigs Kapitel werden wie alle anderen in der Ich-Perspektive erzählt. Die Anlage des Romans, der an einem heißen Sommertag und der folgenden Nacht des Jahres 2023 spielt, ist einfach. Gefangen in ihren Beziehungs- und Familienkonstellationen, machen auch der Literaturprofessor Arne, dessen Ehefrau bipolar ist (man denkt automatisch an Knausgårds Exfrau Linda Boström, deren psychische Erkrankung in „Min kamp“ schmerzlich konkret beschrieben wurde) und den neuen Stern bereits malte, bevor er dann leibhaftig zu sehen ist, Bekanntschaft mit dem Unerklärlichen. Die Pfarrerin Katherine, die einen mehrere Tage zuvor gestorbenen Mann beerdigt, den sie aber einen Tag vorher noch am Flughafen sah. Der Journalist Jostein, der sich durch die Nacht säuft, immer wieder ohnmächtig wird und nach den nächsten Breaking News geifert.
„Der Morgenstern“: Ein Buch zum Verschlingen
Er kriegt sie dann serviert, denn er darf als erster Reporter in den Morgenstunden an den Tatort der Ermordung dreier Mitglieder einer satanistischen Death Metal Band. Der vierte Musiker taucht an einem anderen Ort auf und ist dann wie von Zauberhand wieder verschwunden. Wenn Blut fließt, scheint die Frage eindeutig beantwortet, wer sich in den unnormalen Vorgängen zeigt. Es ist der Teufel, nicht Gott.
Dass Knausgård in seinem Roman, der auf faszinierende Weise formal so breiig ist wie Porridge, aber besser schmeckt, mit dem Akademiker Arne und seinem Sommerhaus-Nachbarn Egil zwei Opponenten auftreten lässt, die über den Glauben und Gottes Existenz diskutieren, überrascht nicht. Das gilt ebenso für Egils Essay, das diesen Roman beschließt, Bibellektüre betreibt und von Tübingen berichtet, wo mit Hölderlin einst ein Dichter aus der Welt fiel. Nordische Sagenwelten und deutsche Romantik sind wie die Bibel der Assoziationsraum dieses Buchs, und sein Autor ist wie immer wenig schüchtern, seinen von Dialogen getriebenen Plot unversehens in eine geisteswissenschaftliche Abhandlung übergehen zu lassen.
Karl Ove Knausgård hat mit „Der Morgenstern“ ein neues Buch vorgelegt, das der poetischen Verknappung mit jeder Seite spottet und das wir genau deswegen verschlingen.
Wer den Schluss mit vielen losen Enden unbefriedigend findet, dem sei gesagt: Dieser Brocken ist nur als Auftakt einer Reihe gedacht. Teil zwei, Teil drei, sogar Teil fünf, es schwirren schon einige perspektivische Vorausblicke durch das Netz. Steht zu vermuten, dass das Tableau der problematisch in ihren Leben gestrandeten oder an Wendepunkten stehenden Figuren – stellvertretend von den Neunen sei noch die unendlich einsame Iselin genannt, der man so einiges wünscht an Schönheit und Rettung – in der Fortsetzung auf so etwas wie Katharsis zusteuert. Oder eben nicht.