Hamburg. Tom hängt mit Heidi ab. Bill ist mehr denn je Marsianer. Für ein neues Album hat es dennoch gereicht. Auch für neue Hits?

Der letzte Ton von „Für immer jetzt“ verklang in einem Monsun aus Gekreische, als Tokio Hotel das Konzert im Februar 2010 in der Hamburger Color-Line-Arena (heute Barclays Arena) beendete. Schlagzeuger Gustav Schäfer wischte sich noch einmal den Schweiß aus dem Gesicht, warf das nasse Handtuch ins Publikum – und schuf ein Bild, das an die Prügelknäuel in den Asterix-Comics erinnerte, wenn sich die Gallier untereinander kloppten.

Ein gutes Dutzend Mädchen stürzte sich auf das Stück Stoff, und am Ende hatte jede es irgendwie geschafft, sich an einem Stück des Handtuchs festzukrallen. Ganz klar: Wer zuletzt losgelassen hätte, wäre die Siegerin gewesen. Aber keine ließ los. Eine Viertelstunde verstrich ergebnislos, die Arena war längst leer, nur die Mädchenrunde klammerte sich noch an Handtuch und Hoffnungen, flankiert von ratlosen Ordnern.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Runde heute noch irgendwo, höflich hindirigiert, in den Katakomben der Halle in einer Ecke steht, auch als Denkmal an die großen Zeiten der 2001 in Magdeburg gegründeten Band. Über zehn Millionen abgesetzte Tonträger weltweit, Konzertreisen durch Europa, Nord- und Südamerika und Asien und Omnipräsenz in den Medien inklusive den entstehenden sozialen Netzwerken machten aus der Schüler-Rockband vor allem in den Jahren 2005 bis 2010 Superstars.

Tokio Hotel mit neuem Album: Rock ist lange passé

Viel ist passiert seitdem. Die Band, die zwischenzeitlich auch in Hamburg-Bahrenfeld und Seevetal-Emmelndorf lebte, bevor es 2010 nach Los Angeles ging, ist natürlich mit ihren Fans erwachsen geworden. Leidenschaften und Geschmäcker ändern sich, und statt in der Arena spielte Tokio Hotel 2017 und 2019 im Docks. Gitarrist Tom Kaulitz, mittlerweile 33, hat sich an der Seite seiner Partnerin Heidi Klum im Jetset eingerichtet. Und Sänger und Blickfang Bill Kaulitz, Toms Zwillingsbruder? Beim Reeperbahn Festival im September, bei dem er Teil der „Anchor“-Preisjury war, wirkte er im silbern schillernden Astro-Anzug wie ein Außerirdischer.

Auch die fünf Alben, die bis „Dream Machine“ (2017) erschienen sind, zeigen die sich auffächernden Vorlieben und Lebensstile der einstigen Teenager-Band. Dominierte auf „Schrei“ noch emotionaler Rock im Stil von HIM, wurde der Stil nach und nach elektronischer, poppiger, glitzernder und auch sprachlich internationaler. Und für nicht wenige Kritiker und Fans der ersten Stunde beliebiger.

Zwischen Los Angeles und Magdeburg

Hier die Los-Angeles-Fraktion der Kaulitz-Zwillinge Bill und Tom an Gesang und Gitarre, da die brave, in Magdeburg verbliebene Rhythmussektion mit Bassist Georg Listing und Schlagzeuger Gustav Schäfer. Man braucht nicht viel Fantasie, um zu ahnen, wer den Ton angibt. Das Handtuch hat allerdings keiner geworfen über die Jahre, beachtlich für eine sehr jung sehr berühmt gewordene Gruppe.

Aber als die Lateinamerika-Tour 2020 durch Corona unterbrochen werden musste, trafen sich die vier regelmäßig in Berlin, um im Gegensatz zum Jahrzehnt davor nicht über mehrere Zeitzonen virtuell neue Songs aufzunehmen, sondern ganz klassisch im Bandformat. Da verlockte der verkündete Albumtitel „2001“ also zur Spekulation einer Rückkehr zu den Wurzeln.

„Durch den Monsun“, die 2022-er Version

Aber Tokio Hotel geht nur noch weiter nach vorne. Als Ausrufezeichen beginnt „2001“ mit dem Lied „Durch den Monsun 2022“. Der Text ist geblieben, aber musikalisch geht es mit veränderter Melodie und Hyper-Pop-Arrangements (funky Bass, Discobeat, Trance-Synthies) in die Klang-Gewässer von Jungle, The Weeknd, Roosevelt und Bruno Mars. „Damit hat sich ein Kreis geschlossen. Wir haben darauf zurückgeschaut, wo wir eigentlich herkommen und was seitdem passiert ist“, fasst Tom Kaulitz die Idee zur neuen Version ihres ersten und größten Hits zusammen.

An „HIM“ und frühe Tokio Hotel erinnert nur der zweite Song „HIM“. Für noch mehr Abwechslung sorgt in „Just A Moment“ und „Berlin“ (Bills bevorzugte diverse Party-Metropole) die kanadische Sängerin und Produzentin Emma Sophia Rosen alias Vvaves, die übrigens auch Songs für die Hamburger Durchstarterin Zoe Wees schreibt. Weitere Besucher im Tokio Hotel sind Islands ESC-Held Daði Freyr (Platz 4 im Jahr 2021) bei „Happy People“ und das wie Freyr in Berlin ansässige Electro-Duo Vize.

Emotionale Achterbahn auf der Kirmes

Vielleicht ist es Zufall, aber besonders die Kollaborationen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern sorgen für die gelungensten, interessantesten Songs auf „2001“. Wenn schon buntes Durcheinander, dann mit Zucker obendrauf. Kaulitz mag in den Texten von „Bad Love“, „Here Comes The Night“, „Runaway“ oder in der Power-Ballade „Dreamer“ emotional Achterbahn fahren, aber das eben auf der Kirmes.

Ein großer Wurf ist „2001“ so nicht geworden, die Devisen „Viel hilft viel“ und „Mehr ist mehr“ klingt im Gesamtbild eher wie ein Best-of-Album. Nur ohne Hits. Damit geht es am 18. Mai 2023 in die Große Freiheit 36. Aber mit Glück und Ausdauer darf Tokio Hotel vielleicht in zehn oder mehr Jahren das Privileg genießen, das nicht wenige andere Teeniestars ebenfalls erfahren haben. Sie wären dann auch eine Band, der Nostalgie und Revival-Lust die Fans wieder zurück in die große Arena zaubern. Vielleicht ist dort bis dahin ja geklärt, wer Gustavs Handtuch behalten darf.

Tokio Hotel: „2001“ Album (Epic/Sony) ist ab 18.11. im Handel erhältlich, Konzert: 18.5.2023, Große Freiheit 36, Karten zu 36,- im Vorverkauf; www.tokiohotel.com