Hamburg. „Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung“ nennt Max Czollek in einer Diskussion um sein neues Buch die Erinnerungskultur.
Im Theater geht es um Rollen. Um Erzählungen. Bisweilen auch darum, wie diese der Realität entsprechen. Und bevor der Autor Max Czollek auf Kampnagel sein neues Buch „Versöhnungstheater“ vorstellte, war zunächst kurz die Rede von dem Theater, das um den Politologen selbst gemacht wird.
Moderatorin Siri Keil, die klug und empathisch durch den Abend führte, konfrontierte den 35-Jährigen mit allerlei Be- und Zuschreibungen zu seiner Person. Hat er doch mit seinem Bestseller „Desintegriert Euch!“ bereits für reichlich Diskussionsstoff gesorgt. „Kompromisslos und messerscharf“ findet der SWR seine Analysen zur Zeit. Als „Polemiker mit Punch“ bezeichnet ihn der „Spiegel“.
Max Czollek seziert die Wirkmacht von Worten und Gesten
Selbst- und Fremdbild wichen zum Teil immer extremer voneinander ab, erklärte Czollek. Doch häufig käme die Antwort: Er sei ja freundlicher als gedacht. Und auch in der voll besetzten Halle k6 zeigte sich der Publizist (Sweatshirt und Jeans in Schwarz, das Käppi zart-rosa glitzernd) äußerst zugewandt und sprach mit passionierter Konzentration über seine Themen.
Wobei in der Kulturfabrik durchaus eine Atmosphäre unter Gleichgesinnten zu wirken schien. Sprich: Von den jungen Studierenden bis zu den Alt-Intellektuellen im Publikum gab es immer wieder starken Applaus, aber keine lautstarke Widerrede.
Und so wichtig die Debatte um eine Streitschrift wie die Czolleks gewiss ist, umso bereichernder war es doch, in anderthalb Stunden zunächst in Tiefe und Ruhe seine Argumentation nachzuvollziehen. Ohne dass sofort ein Schlagabtausch einsetzte. Und den würde es bei entsprechend besetzter Runde bestimmt geben. Denn Czollek hinterfragt in „Versöhnungstheater“ nicht weniger als das Narrativ der deutschen Erinnerungskultur.
Czollek übt scharfe Kritik an der Politik
Seine Kernthese: Mit einer Vielzahl symbolischer Akte strebt Deutschland nach einer Versöhnung mit der eigenen Geschichte, nach „nationaler Selbstentlastung“. Doch all die Gedenktage, Mahnmale und Reden fänden keine Entsprechung im tatsächlichen Umgang mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus. Wenn nun im Rahmen der Stutthof-Prozesse in Itzehoe eine der letzten Angeklagten von NS-Verbrechen vor Gericht stand, so ließe sich konstatieren: „99 Prozent der Prozesse gegen die Verantwortlichen der Shoah haben nicht stattgefunden.“
Diese Diskrepanz zwischen ideeller Erinnerungskultur und zugleich ausbleibenden Konsequenzen nennt Czollek „das Kunststück einer Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung“. Und er übt scharfe Kritik daran, einen neu erwachsenden Nationalstolz mit der eigenen Erinnerungskultur zu legitimieren.
Auf Kampnagel las Czollek unter anderem aus der Einleitung seines Buches, in der er sich über einen aktuellen Shift in der Politik empört: Etwa über die Standing Ovations für die Bundeswehr-Milliarden. Oder über die Aussage von SPD-Chef Lars Klingbeil, dass Deutschland „nach 80 Jahren der Zurückhaltung“ jetzt international den Anspruch einer „Führungsmacht“ übernehmen müsse.
Eine Perspektive der Unversöhnlichkeit und Untröstlichkeit
Czollek seziert die Wirkmacht von Worten und Gesten. Den Wandel deutscher Erinnerungskultur unterteilt er dabei in drei Phasen: Vom Kriegsende bis zum Kniefall Brandts. Und dann von der Wiedervereinigung bis heute. Bis hin zur Rede Frank-Walter Steinmeiers zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, in welcher der Bundespräsident vom „Wunder der Versöhnung“ sprach. Czollek wendet sich entschieden dagegen, dass Erinnern gleichzeitig immer auch Versöhnung bedeuten soll. Und er zitiert dabei Hannah Arendt aus dem Jahr 1964: Der Holocaust kann nicht wiedergutgemacht werden.
Der Autor plädierte auf Kampnagel deutlich für eine Perspektive der Unversöhnlichkeit und Untröstlichkeit. Dafür, permanent Räume zu schaffen und offen zu halten, in denen Wut, Trauer, aber auch Widerstand praktiziert werden können. Denn auch wenn sein Sound mitunter sehr zugespitzt sein mag, so ist sein Anliegen doch ein zutiefst menschliches und pluralistisches.
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Max Czollek zitiert Aufruf des Hamburger Autors Ralph Giordano
Das große Bemühen, sich in positiver Weise mit der eigenen Geschichte identifizieren zu wollen, schließe die Opfer, deren Angehörige und Nachfahren oftmals aus. Und das gelte nicht nur für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Das Narrativ von der Wiedervereinigung als „happy day“, wie Czollek es formulierte, negiere etwa das Schicksal von migrantischen und afrodeutschen Menschen, die sich in den 90er-Jahren Übergriffen von Neonazis ausgesetzt sahen.
Czollek verwies dabei auf den Aufruf „Ausländer – wehrt Euch!“ des Hamburger Autors Ralph Giordano nach den Anschlägen in Solingen 1993, den jener aus seinen Erfahrungen während der Judenverfolgung herleitete: „Schluß mit der Defensive gegenüber dem alten und neuen Braungesindel“.
Gewisse Kontinuitäten, wie etwa die des rechten Terrors, gingen nur unzureichend in die Erzählungen des Landes ein: „Wenn Erinnerungskultur dafür da ist, dass sich Geschichte nicht wiederholt“, postulierte Czollek, hätte man doch spätestens bei den NSU-Morden tief in die Strukturen einsteigen müssen. Sein Fazit: „Du musst Albträume haben, wenn du dich mit der deutschen Geschichte beschäftigst. Alles andere wäre unangemessen.“ Heftiger Applaus.