Hamburg. Der Politikwissenschaftler und Lyriker Max Czollek las auf Kampnagel aus seinem neuen Buch „Gegenwartsbewältigung“.
Nach seinem viel diskutierten Bestseller „Desintegriert euch!“ hat Max Czollek jetzt eine weitere Streitschrift verfasst: „Gegenwartsbewältigung“ heißt das Buch des Berliner Lyrikers und Politikwissenschaftlers, in dem er für eine plurale Gesellschaft eintritt. Im Rahmen der „Tage der jüdisch-muslimischen Leitkultur“, die noch bis zum 9. November in zwölf Städten im gesamten deutschsprachigen Raum stattfinden, stellte der 33-Jährige das Buch jetzt auf Kampnagel vor.
„In den letzten Jahren erlebten wir die rasante Rückkehr völkischen, rassistischen und antisemitischen Denkens, das in Teilen auf eine über tausendjährige deutsche Tradition zurückblickt“, so Czollek. Angesichts dieser Geschichte plädiert er für eine Perspektive, die die Realität der postmigrantischen Gesellschaft anerkennt, gerade auch in ihrem Potenzial für historische und kulturelle Bezugspunkte in der Vergangenheit. „Eine zentrale Frage der Gegenwartsbewältigung ist nämlich, wie wir unser politisches Denken so einrichten können, dass die AfD unmöglich wird.“
„Wrestlingmatch der Konzepte“
Bereits in seinem 2018 erschienenen Essay „Desintegriert euch!“ verwies Czollek auf eine offizielle Gedenkkultur, die den Weg für ein neues nationales Selbstverständnis bereite. Einen Begriff des Soziologen Michal Bodemann aufgreifend, bezeichnet er diese Form des kollektiven Erinnerns als „Gedächtnistheater“. Dabei werde „den Juden“, wie Czollek schreibt, eine entscheidende Rolle zugedacht. Der beste Schutz vor dem antisemitischen Ungeist, so der konservative Konsens, sei eine „deutsche Leitkultur“.
Diese Leitkultur aber „hänge in den Seilen“, so das Bild, das Czollek aufzeichnet, wenn er von einem „Wrestlingmatch der Konzepte“ schreibt. Im Ring dabei ist auch Philipp Amthor, aufstrebender konservativer Nachwuchspolitiker der CDU, der anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz sagte, dass Antisemitismus heute vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen vertreten sei, also gleichsam von außen importiert. Czollek: „Durch die Behauptung, die Leitkultur existiere vor allem, um Juden vor den angeblich antisemitischen Musliminnen und Muslimen zu schützen, gewinnt die Forderung nach einer deutschen kulturellen Dominanz für die Gegenwart endlich eine vermeintliche gesellschaftliche Rechtfertigung.“ Und so kontert Czollek die Vorstellung einer jüdisch-christlichen Leitkultur provokant mit einem Alternativvorschlag: eine jüdisch-muslimische Leitkultur.
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Nach den rechten Terrorangriffen der vergangenen Jahre, nach NSU, Chemnitz, den Angriffen auf eine Synagoge in Halle und auf einen jüdischen Studenten in Hamburg sei klar, dass beide Seiten aller Wahrscheinlichkeit nach ein Schicksal teilen. „Entweder, es gelingt Juden und Jüdinnen wie Musliminnen und Muslime, in Deutschland zu leben. Oder beiden nicht.“ Die Gegenwart bewältigen, das heißt für Max Czollek radikale Vielfalt und Desintegration. „Gerade die radikale Vielfalt der Gesellschaft ist ein Motor der Demokratie.“
Max Czollek: „Gegenwartsbewältigung“, Hanser Verlag, 208 Seiten, 20 Euro