Hamburg. Wie zufrieden – oder unzufrieden – ist man in der Kultur der Hansestadt mit den Besucherzahlen? Das Meinungsbild ist uneinheitlich.

Wo sind sie, warum kommen sie oder auch nicht? Wer kommt eher zurück als andere? Und auf wen kann man nun wohl leider noch lange warten? Sind es die gleichen Gäste oder neue, womöglich sogar mehr der von allen begehrten Jüngeren? Fragen über Fragen stellen sich Kulturveranstaltende landauf landab, wenn es auf der gefühlten Auslaufrunde der Corona-Pandemie um die Rückkehr des Publikums geht. Auch die Kultur-Großstadt Hamburg war und ist schwundbetroffen, mal mehr, mal weniger. Oft aus Gründen, über die nur spekuliert werden kann.

Mit Kriegsbeginn in der Ukraine sei der Verkauf nahezu zum Erliegen gekommen, hatte Thalia-Intendant Joachim Lux kürzlich öffentlich geseufzt – sein Kaufmännischer Geschäftsführer Tom Till mag in die Klage nicht gar so deprimiert einsteigen. „Es stimmt, wir hatten den schlechtesten April seit langem. Aber schon im Mai ist die Auslastung wieder gestiegen.“ Auf der großen Bühne liegt sie dennoch nur bei rund 60 Prozent – in der Gaußstraße immerhin bei 85 Prozent. Die Hauptsaison eines Theaters falle aber immer auf die Zeit zwischen Oktober und April, so Till. Das Thalia hat auch darum bis zum Spielzeitende eine Sonderaktion gestartet, die laufe „super“: „1300 Neun-Euro-Tickets haben wir schon verkauft. Das Aktivierungsmoment funktioniert also, das Theater als Begegnungsort wird gestärkt.“

Elbphilharmonie spricht von "veränderter Verkaufssituation"

Auffallend gut würden „ausgerechnet die langen und sperrigen Stücke“ verkauft, sagt Till: Jette Steckels Adaption des Haratischwili-Romans „Das mangelnde Licht“ und Kiril Serebrennikovs „Der schwarze Mönch“ sind besonders gefragt, außerdem „Tod in Venedig“ und „Herkunft“ in der Gaußstraße, die beide immer ausverkauft sind. Dennoch gibt er zu: „Grundsätzlich ist die Stücklänge ein Faktor.“ Als Maxime für Regisseure habe man eine künftige Stücklänge von bis zu zwei Stunden und 45 Minuten ausgegeben. Keine feste Vorgabe sei das, eher eine Richtlinie. Und „Maria und Elisabeth“, eigentlich nur ein Teil von Antú Romero Nunes‘ „Ode an die Freiheit“, wird im Herbst als eigenständige Kurzformat-Vorstellung ins Programm genommen. Aber auch das mehr als fünfstündige Erfolgsstück „Das achte Leben (Für Brilka)“ wird wieder aufgenommen.

Vom NDR Elbphilharmonie Orchester (NEO) wird zum Verkaufsstart der Einzelkarten eher pragmatisch mitgeteilt: „Die Verkaufssituation hat sich durch die Pandemie verändert.“ Auch nach Aufhebung der Einschränkungen sei das Kaufverhalten zurückhaltender, deutlich stärker in der Region als in Hamburg. Dort lag die Auslastung der NEO-Konzerte seit Anfang April bei fast vorpandemischen 95 Prozent. „Dabei wird auch deutlich, dass teilweise ein neues Publikum den Weg in die Konzerte findet.

Musikfest 2022 endete mit 85 Prozent Auslastung

In einer Mahler III wird zwischen den Sätzen geklatscht – während musiziert wird, ist das Publikum umso vertiefter in die Musik.“ Die Abo-Auslastung für die nächste Spielzeit liegt momentan bei etwa 85 Prozent im Vergleich zur Vor-Corona-Saison 2019. Neue Formate, neues Interesse? Zu einem Konzert des NDR Vokalensembles kamen 350 Menschen in den Mojo Club unter der Reeperbahn, als Update der klassischen Konzerteinführungen für digitaler orientierte Kunden gibt es jetzt die Audio-Konzerteinführung „NDR Klassik to Go“.

Vor allem Licht am Ende eines langen Tunnels vermeldet die Elbphilharmonie selbst – die als Sensations-Unikat allerdings auch ein Spezialfall ist. „Wir sind nicht unzufrieden mit der Entwicklung der letzten Monate“, teilt Pressesprecher Martin Andris mit. Das Musikfest 2022 endete mit 85 Prozent Auslastung. „Das ist noch kein vorpandemisches Niveau, aber mit Blick auf die Situation an anderen Orten schätzen wir uns sehr glücklich.“ Bei Kartenkäufen im Voraus spüre man eine gewisse Zurückhaltung, „das Publikum entscheidet sich später für Konzertbesuche. Dass es für viele Konzerte kurzfristig Tickets gibt, hat aber auch Vorteile: Wir sehen mehr jüngere Menschen im Publikum. Sie machen von unserem REDticket für Besucher unter 30 Jahren Gebrauch.“

„Die Pandemie hat auch in der Kultur sehr viel verändert“

Die Staatsoper und die Philharmoniker werden bei ihrer Publikums-Messung grundsätzlicher: „Die Pandemie hat auch in der Kultur sehr viel verändert“, heißt es von der Dammtorstraße. „Umso mehr geht es jetzt nicht nur darum, darüber zu reden was alles anders werden muss, sondern viel mehr um die Frage, was wir als Gesellschaft in Zukunft erhalten wollen? Ob wir Opernhäuser und Orchester, die ein breites, vielfältiges über Jahrzehnte entstandenes Repertoire in hoher Qualität anbieten, erhalten wollen. Wir finden: ja.“ Anfang November 2021 liefen die Platzeinschränkungen in der Staatsoper aus.

Die Auslastung von November und Dezember 2021 erreichte fast das Niveau der Vergleichsmonate 2019, im Januar und Februar 2022 lag der Besuch zehn bis 30 Prozentpunkte unter demjenigen der Vorjahre ohne Pandemie. Allerdings habe man aus Gründen des Arbeitsschutzes einige Produktionen nur in reduzierten Versionen aufführen können. „Seit Ende April 2022 spielen wir ohne Einschränkungen und sehen einen Angleich der Zahlen an frühere Jahre. Bei Neuproduktionen ist das eher der Fall als beim Repertoire, dort liegen die Werte noch rund zehn bis 15 Prozent unter den Zahlen der Vorjahre. Wir sehen der kommenden Saison durchaus optimistisch entgegen.“ Das gelte auch für die Philharmoniker-Konzerte in der Elbphilharmonie. Dort sei man in den vergangenen Monaten „durchweg ausverkauft“ gewesen.

Symphoniker Hamburg verzeichnen viele Spontankäufe

Das können die Symphoniker Hamburg, Residenzorchester der Laeiszhalle, gerade nicht von sich behaupten. „Die Nachfrage nach Konzertkarten hat bei uns noch nicht wieder das hohe Niveau von 2019 erreicht“, teilt deren Sprecher Olaf Dittmann mit. Einzelne Ausreißer nach oben, wie die „Missa solemnis“ im März, bestätigen diese Regel. „Zurzeit haben wir immer noch einige Plätze im Saal gesperrt. Während der Corona-Zeit erreichten uns Zuschriften von Kunden, die sich gegen einen Konzertbesuch mit Maske aussprachen; jetzt sind es Zuschriften von Kunden, die ohne Maskenpflicht nicht kommen möchten.“

Der Abonnenten-Zulauf sei seit 2020 stets hoch gewesen, zurzeit sei das Abo für Bestands-Kundschaft besonders attraktiv, da man ihnen Karten für das Martha Argerich Festival schenke. „Dass besonders viele gekaufte Plätze nicht belegt werden, lässt sich nicht beobachten. Wir verzeichnen allerdings ungewöhnlich viele Spontankäufe. Das ist ein Trend, der bereits vor der Pandemie zu erkennen war: In den letzten Tagen vor einem Konzert werden anteilig deutlich mehr Karten verkauft als noch vor fünf, sechs Jahren.“

Ensemble Resonanz freut sich auf neue Saison

Nur etwa 600 Meter Luftlinie von der Laeiszhalle entfernt arbeitet das Ensemble Resonanz im Medienbunker. Dessen Geschäftsführer Tobias Rempe fasst die aktuelle Lage so zusammen: „Bis März verlief unser Konzertkartenverkauf – unter den jeweils geltenden Beschränkungen – eigentlich wie ,früher‘: Elbphilharmonie-Konzerte waren ausverkauft, die Laeiszhalle gut gefüllt. Seit Voll-Auslastung wieder möglich ist, seien im Frühjahr einige Plätze leer geblieben. „Mit Blick auf unser Publikum sehen wir darin aber keinen Trend, für die kommende Spielzeit verzeichnen wir kaum Abo-Kündigungen. Wir freuen uns auf die neue Saison!“

Burkhard Glashoff, Geschäftsführer der Konzertdirektion Dr. Goette, beobachtet bei seinen ProArte-Konzertreihen einige Tendenzen: „Die Stammabonnenten kehren in die laufenden Konzerte zurück; nur vereinzelt bleiben noch Abo-Plätze leer, ohne dass Karten vorher zurückgegeben wurden. Wir haben prozentual nicht mehr Kündigungen als in der vorpandemischen Zeit, denen schon jetzt eine größere Anzahl von Neuanmeldungen gegenübersteht.“ Einzelkarten-Verkäufe seien nach wie vor „sehr kurzfristig, sodass es nicht immer gelingt, Konzerte auszuverkaufen, die keine Einbindung in ein Abo haben“. Und besonders beliebt seien die sicheren Nummern, „Konzerte mit hochkarätigen und prominenten Interpreten und/oder attraktiven Programmen“.

Livemusik-Szene spürt die Nachwirkungen

Lesen kann man überall, vor Publikum gelesen wird im Literaturhaus. Dessen Chef Rainer Moritz steht mit dem leichten Besucherrückgang nicht alleine da: „Es ist in allen Literaturhäusern bundesweit zu beobachten, dass sich das Publikum – trotz oder wegen des Wegfalls der Maskenpflicht – zurückhält, Veranstaltungen zu besuchen.“ Nach den Sommerferien werde man weitersehen. „Ich bin zuversichtlich, dass die Menschen zurückkehren werden. Herausragende Autorinnen und Autoren zu präsentieren wird dabei sicher helfen. Für Alarmismus gibt es (noch) keinen Grund.“

Auch in der nicht-klassischen Hamburger Livemusik-Szene ist man noch weit entfernt von der geradezu irrsinnigen Nachfrage nach Konzertkarten vor der Pandemie. Über 25 ausverkaufte Konzerte in einer Woche von Knust bis Barclays Arena wie noch im Februar 2020 sind Zukunftsmusik, obwohl sich das Angebot im Juni und Juli jetzt beachtlich ballt. Für Megastars wie Dua Lipa oder die Pet Shop Boys läuft es prima, auffällige Zurückhaltung herrscht aber im mittelgroßen Club-Segment. So verloren sich kürzlich bei Leslie Clio im Mojo oder Tom Schilling im Gruenspan 100 Fans in den Clubs, wo früher 800 und mehr kamen.

No-Show-Quote reicht bis zu 40 Prozent

Ein Eindruck, den Ben Mitha, Geschäftsführer der Karsten Jahnke Konzertdirektion, bestätigt: „Grundsätzlich stellen wir leider fest, dass wir noch lange nicht wieder das Prä-Pandemie-Niveau erreicht haben. Ein europaweites Phänomen. Es gibt aktuell nur wenige Künstler, die Tourneen nach wie vor ausverkaufen. Dies zieht sich durch alle Kategorien, selbst für Konzerte der Megastars gibt es wieder Tickets.“

Auffällig ist auch bei nicht wenigen Pop-Konzerten der Anteil der „No Shows“, der Ticket-Käuferinnen und -Käufer, die nicht auftauchen. „Die No-Show-Quote reicht von zehn Prozent, was seit der Pandemie im Grunde schon ein ganz normaler Wert ist, bis zu alarmierenden 40 Prozent. Es gibt jedoch kein Muster, was die Situation für uns leider wenig plan- und berechenbar macht“, berichtet Mitha. Er vermutet für die No-Show-Raten bei den nachgeholten Konzerten die unzähligen Corona-bedingten Verschiebungen als Grund, ebenso das geänderte Freizeitverhalten und eine anhaltende Risikovermeidung.

Mangel an Fachkräften bereitet Sorgen

Trotzdem ist die Konzertbranche froh über jeden Schritt nach vorne, wie Dieter Semmelmann, Chef von Semmel Concerts, bekräftigt: „Die letzten Monate, in denen wir Arena-Tourneen von Künstlern wie Hans Zimmer und Sarah Connor durchführen durften, stimmen uns sehr zuversichtlich,. Die Lockerungen bei den Einlassbestimmungen zeigen uns, dass wir wieder mit Perspektive arbeiten können. Wir spüren, dass es bei den Besuchern einen großen emotionalen Nachholbedarf gibt, was Entertainmentveranstaltungen anbelangt.“

Wobei der Nachholbedarf und die vielen jetzt aus den Startlöchern kommenden Tourneen ein weiteres Problem offenlegen: „Was uns wirklich Sorgen macht, ist der Mangel an Fachkräften und technischem Equipment. 2020 und 2021 gab es eine starke Personal-Abwanderung. Zudem finden 2022 so viele Konzerte statt, die aus den Vorjahren verschoben wurden, dass die technischen Ressourcen darauf nicht ausgelegt sind. Dies wird weiterhin eine große Herausforderung, der wir uns alle gemeinsam stellen müssen“, sagt Semmelmann. Dazu passt das ursprünglich für den 20. Juni geplante Konzert von Alicia Keys in der Barclays Arena: Obwohl sehr gut verkauft, wurde es „aufgrund unvorhergesehener Produktionsprobleme“ abgesagt.

Komödie Winterhude ließ sich besondere Aktion einfallen

Die privat geführten Hamburger Theater haben sich schon vor der Corona-Krise immer etwas einfallen lassen (müssen). Eine aktuelle Aktion der Komödie Winterhude, neben dem Ernst Deutsch Theater noch immer das hiesige mit dem größten Abonnenten-Stamm (jeweils ca. 5000), umwehte allerdings das Aroma von Verzweiflung. Um den Saal bei der Wiederaufnahme des 2019er-Erfolgsstücks „Willkommen bei den Hartmanns“ halbwegs zu füllen, verschickte die Komödie in ihrem Newsletter unter dem Motto „Wie spontan sind Sie?“ Angebote, mit denen Empfänger Karten für Dienstag bis Donnerstag zu Rabattpreisen von fünf bis 15 Euro buchen können.

Nachlass gibt es auch andernorts: Als Remake einer Sonderangebots-Aktion aus dem Vorjahr können Interessierte unter 30 am 2. Juli für fünf Euro eine Vorstellung des Neumeier-Balletts „Ghost Light“ besuchen. Das Kaufverhalten in Sachen Theatertickets scheint immer kurzfristiger zu werden, wobei die Monate Mai und Juni alles andere als Bühnen-Hochsaison sind. Dennoch: Corny Littmann (Schmidt Theater, Schmidts Tivoli und Schmidtchen) registrierte bereits vor der Uraufführung des Musicals „Die Königs schenken nach!“ eine langsame, aber stetig steigende Nachfrage mit einer durchschnittlichen Auslastung von zwei Dritteln.

Hader, Polt und Eckart liefen gut

„Die Auslastungszahlen sind gestiegen“, bestätigt auch Ulrich Waller, Intendant des benachbarten St. Pauli Theaters. „Mit den Corona-Einschränkungen liegen wir bei knapp 80 Prozent.“ Richtig stark seien Satiriker wie Hader, Polt und Eckart gelaufen, ebenso der Tukur-Redl-Balladen-Abend. Und mit der prominent besetzten Dinner-Komödie „Das perfekte Geheimnis“ komme auch „unser Publikum wieder zurück.“

Im Altonaer Theater und in den Hamburger Kammerspielen, die erst seit wenigen Tagen wieder mit voller Saalauslastung spielen, machten „die leicht steigenden Zahlen der letzten Wochen tatsächlich Hoffnung“, sagt Altona-Sprecherin Friederike Barthel. Sie lagen bei jeweils 50 bis 60 Prozent – für sie „ein Zeichen einer Normalisierung“. Für einen wirtschaftlichen Betrieb auf Dauer aber zu wenig, obwohl die Besucherzahlen in den Kammerspielen bei „Herr Klee und Her Feld“ im Juni noch besser geworden seien als im Mai – womöglich ein „Rumsprecheffekt“.

Hamburgs Kultur auf Sonderförderung angewiesen

Das Publikum, das kommt, sei „sehr dankbar, Theater wieder live und mit allen Sinnen erleben und reflektieren zu können und die Nähe zur Bühne zu spüren“, hat Ohnsorg-Intendant Michael Lang bei „Dat Frollein Wunner“ und „Kleiner Mann, was nun?“ festgestellt. Dennoch müssten die Besonderheiten eines Theaterabends wieder neu entdeckt werden, sie wurden tatsächlich „verlernt“, meint Lang. „Der unbekannte Sitznachbar muss wieder als Bereicherung für ein echtes Gemeinschaftserlebnis betrachtet werden, nicht als potenzielle Infektionsgefahr.“

In der Summe erreicht das Ohnsorg aktuell etwa zwei Drittel der vorpandemischen Besucherzahlen. „Das Projekt Publikumsrückgewinnung läuft auf Hochtouren, es wird meines Erachtens so viel Zeit benötigen, wie die Pandemie bisher gedauert hat“, sagt der Ohnsorg-Chef. Deshalb brauche es außer Zuversicht und Geduld noch „die nötige Sonderförderung für rund zwei Jahre“, warnt Lang vor.