Hamburg. Eine große Hamburger Solidaritätsveranstaltung, weltweite Aufmerksamkeit: Neda Rahmanian und Michel Abdollahi über die Iran-Proteste.
Die Welt blickt nach Iran. Endlich, wie viele finden und insbesondere in Deutschland lebende Exil-Iranerinnen und -Iraner. Menschen wie die Schauspielerin Neda Rahmanian („Tatort“, „Der Kroatien-Krimi“), geboren 1978 in Teheran, aufgewachsen in Hamburg. Und Moderator und Kultur-Veranstalter Michel Abdollahi, geboren 1981 ebenfalls in Teheran, er kam als Fünfjähriger mit seiner Familie nach Hamburg.
An diesem Sonnabend sind beide Teil des Solidaritätsabends „Frau – Leben – Freiheit“ im Schauspielhaus, für den sich alle großen Hamburger Kulturinstitutionen zusammengeschlossen haben. Ein Gespräch über die landesweiten Proteste nach dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini, über Mut, Angst, Hoffnung und die Bedeutung der sozialen Medien in Zeiten wie diesen.
Hamburger Abendblatt: Wann haben Sie das letzte Mal mit jemandem im Iran gesprochen?
Michel Abdollahi: Wenn ich mit meinen Verwandten dort spreche, reden wir nicht viel über die aktuellen Vorkommnisse. Es ist nicht die Islamische Revolution, die da gerade passiert, das dürfen wir nicht vergessen. 1979 befanden sich 70 Prozent der Bevölkerung auf der Straße. Heute sagen einige, dass viel los sei, andere sagen, es sei unruhig, und wieder andere, dass sie das gar nicht interessiere. Die Proteste sind schon Stadtgespräch, aber im Iran ist immer viel los. Neu ist, dass man sich öffentlich gegen das Regime stellt, dass man Bilder herunterreißt, dass man Frauen ohne Kopftuch auf den Straßen sieht. Aber den sogenannten Generalstreik, der das Land angeblich lahmlegen soll, den gibt es so nicht. Es braucht noch mehr Unterstützung von unserer Seite, damit die Leute den Mut haben, weiter auf die Straße zu gehen.
Neda Rahmanian: Ich spreche regelmäßig mit Freunden in Teheran. Manche Freunde mit Kindern gehen nicht demonstrieren, aus Angst vor dem Regime. Mit den Menschenmassen bei der Grünen Demonstration 2009 ist das noch nicht zu vergleichen. Und im Vergleich zu 1979 ist beeindruckend, dass heute vor allem die Jugend und die Frauen auf die Straße gehen. Sie waren diesmal die Initialzündung. Der Protest zieht sich aber durch alle Gesellschaftsschichten, ich finde schon, dass das in Teheran und anderen Städten sehr präsent ist. Aber um ein Land wie den Iran lahmzulegen, bedarf es noch viel mehr.
Abdollahi: Politik ist in jedem Gespräch im Iran sehr präsent. Das ist ein bisschen anders als hier.
Ihr Eindruck: Was ist dort das vorherrschende Gefühl? Mut?
Rahmanian: Der Mut ist riesig. Der Fakt, dass Frauen ohne Kopftuch auf die Straße gehen – das kann man sich hierzulande gar nicht vorstellen, was das bedeutet. Das ist Wahnsinn. Es ist trotzdem keine „Kopftuch-Revolution“, es geht um viel mehr, dennoch macht diese weibliche Potenzierung den Protest so außerordentlich.
Wie fühlen Sie sich in der Ferne, als notgedrungene Beobachter des Geschehens? Werden Sie von der Energie angesteckt oder fühlen Sie sich auch ohnmächtig aufgrund der Distanz?
Rahmanian: Ohnmächtig fühle ich mich gar nicht. Die sozialen Medien geben uns nie da gewesene Möglichkeiten, aber man muss wissen, welche Konsequenzen das haben kann. Jeder beliebige Instagram-Post über irgendeinen Vorgang im Iran, in dem ich eine Haltung gegen die Herrschenden einnehme, kann dazu führen, dass ich nicht mehr in den Iran reisen kann. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was er postet. Grundsätzlich finde ich die Rolle der sozialen Medien sehr wichtig. Ich kann hier in Deutschland ein Verstärker für die Forderungen der Iraner sein. Ich poste zu den Protesten im Iran. Durch Instagram sieht jetzt auch die Welt, was da geschieht.
Sind Sie neu politisiert?
Rahmanian: Ich hatte bislang tatsächlich alles Politische in meinem öffentlichen Auftreten, etwa auf Social Media, bewusst ausgeklammert. Insofern ist mein klares politisches Posten auf Instagram absolut neu.
Abdollahi: Ich habe Instagram immer als politische Plattform wahrgenommen. Die sozialen Netzwerke sind dafür gemacht worden. Ich habe mich dort und auch auf der Bühne immer zum Iran geäußert.
Wann waren Sie das letzte Mal dort?
Abdollahi: Ich bin immer in den Iran gereist, das letzte Mal vor etwa zwei Jahren.
Sind Sie angstfrei, Herr Abdollahi?
Abdollahi: Immer schon gewesen. Ich interessiere mich nicht für andere Menschen, vielleicht liegt es daran.
Dabei zeigen Sie bei Ihren vielfältigen gesellschaftlichen Anliegen und auch jetzt im Iran ganz schön viel Empathie.
Abdollahi: Dafür braucht es keine Empathie. Es geht um Fakten und innere Überzeugungen. Es gibt im Iran auch Menschen, die die Islamische Republik ganz toll finden. Sonst würde es sie nicht schon 43 Jahre geben. Ich finde sie nicht gut. Es hat immer etwas mit der Erziehung zu tun, wie politisch man ist. Ich setze mich für Dinge ein, die ich für wichtig erachte, und das hat dann auch nichts mit Mut zu tun. Für mich hat sich an den Zuständen dort nie etwas geändert, sie werden nur hier jetzt auf einmal wahrgenommen. Obwohl hier ja jeder mindestens einen Iraner kennt. Wir sind eine große Minderheit! Der Generalsekretär der FDP ist Iraner, der Vorsitzende der Grünen ist Iraner. Jetzt weiß jeder, da passiert was. Wo es enden wird, weiß aber keiner, weder hier noch dort, auch nicht in der iranischen Community. Man weiß nur, dass man das Alte nicht mehr will. Es gibt da eine Lücke, weshalb nun Narrative gesucht werden; es sei eine weibliche, feministische Revolution, heißt es zum Beispiel. Dabei ist es ganz einfach: Die Menschen, gleich welchen Geschlechts, wollen diese Islamische Republik nicht mehr.
Finden Sie auch, dass der weibliche Protest nur ein Narrativ ist, Frau Rahmanian?
Rahmanian: Der Protest ging von den Frauen aus. Jetzt kämpfen Männer und Frauen auf der Straße für das Gleiche, für ihre Freiheit. Und sie tun das wohlgemerkt auf Augenhöhe. Es ist zum ersten Mal die gesamte Gesellschaft, vereint mit allen Minderheiten, wie Kurden und Belutschen und viele andere Ethnien, die gemeinsam protestieren. Aber es waren nach Jina Mahsa Aminis Tod die Frauen, die als Erste auf die Straße gingen.
Abdollahi: Für eine feministische Außenministerin hört es sich natürlich gut an, von einer feministischen Revolution zu sprechen, um zu erklären, was im Iran passiert. Das meine ich mit Narrative-Finden. Das Abnehmen des Kopftuchs ist ein Straftatbestand, den Männer nicht erfüllen können, weswegen Männer nicht Gefahr laufen, bestraft zu werden. Insofern ist der Protest tatsächlich von den Frauen initiiert, aber es sind die Männer, die genauso dabei mitmachen, indem sie sagen, ich finde das gut, ich bin dabei. Es ist eine Gesamtbewegung des ganzen Landes, insbesondere der jungen Leute. Das ist eigentlich noch viel geiler, dass alle dabei sind und nicht nur und besonders die Frauen. Bei uns hat das mit Fridays for Future ganz gut funktioniert. Da fing die Gruppe der ganz Jungen an, dann kamen irgendwann die Eltern for Future und die Omas for Future. Nur kannst du im Iran halt dafür bestraft werden, dass du da mitmachst.
Man läuft im Iran nicht nur Gefahr, festgenommen zu werden. Was hören Sie über sexualisierte Gewalt?
Rahmanian: Das war in den sozialen Medien ein großes Thema. Es gibt Augenzeuginnen, die von den Vorgängen in den Gefängnissen berichteten, von den Vergewaltigungen. Wir sprachen vorhin von dem Mut der Protestierenden. Ich glaube: In dem Moment, in dem ich auf die Straße gehe, mache ich mir keine Gedanken mehr, dass daraus auch sexualisierte Gewalt folgen kann. Allein der Gang auf die Straße kann schwere Konsequenzen haben: Festnahme, Gefängnis, sogar Tod. Wer den Endpunkt der Todesstrafe in Kauf nimmt, der denkt nicht mehr über eine Vergewaltigung nach. So grausam es auch ist.
Wie belastend ist es für Sie, dass im Iran, das ja besonders die Heimat Ihrer Eltern ist ...
Abdollahi: … der Iran ist nicht nur die Heimat meiner Eltern, er ist auch meine Heimat. Auch wenn ich in Hamburg aufgewachsen bin. Ich kenne den Iran in- und auswendig. Es gibt keinen Ort, den ich nicht besucht habe, keine Sommerferien, die ich nicht dort verbracht habe.
Rahmanian: Ich habe zwei Heimaten, der Iran ist eine davon. Manchmal fehlt mir das Land, einfach irgendwo zu sein, wo die Menschen eine Sprache sprechen, die mir seit meiner Geburt vertraut ist. Wo sie aussehen wie ich. Das heißt keineswegs, dass ich mir hier unwohl fühle.
Abdollahi: Was Deutschlands Blick auf den Iran angeht: Es ist wirklich nichts neu, was dort geschieht, keine Verhaftung, kein Mord, das passiert dort seit 43 Jahren jeden Tag. Das Besondere ist, dass sich jetzt die Bevölkerung in dem Maße, wie wir es gerade sehen, erhoben hat. Heute schaut die Welt hin.
Es gibt ein Momentum.
Abdollahi: Eine Dynamik, genau, ein Momentum. Es ist wie beim Fall der Berliner Mauer.
Würden Sie am liebsten mitmarschieren?
Abdollahi: Jeder ist da anders. Manche sind lieber auf der Straße und demonstrieren, andere wirken lieber im Hintergrund. Lyriker schreiben Gedichte, Filmemacher machen Dokus, ich nutze meine Möglichkeiten, so wie ich sie habe. Aktuell sind meine Möglichkeiten hier größer. Mal abgesehen davon, dass ich keine gesteigerte Lust verspüre, mich verhaften zu lassen.
Fühlen Sie sich iranischer jetzt, wegen der Präsenz des Themas?
Rahmanian: Ich merke schon, dass mein Iranischsein situationsbedingt viel präsenter ist, klar. Es gibt eine weltweite Anteilnahme in Kanada, New York, London, hier.
Was erwarten Sie sich von dem Hamburger Solidaritätsabend? Natürlich ist der erst mal eine ziemlich große Sache – aber nach dem großen Sonnabend kommt vielleicht schnell ein durchschnittlicher Montag.
Abdollahi: Das geht sogar noch schneller. Um 22.30 Uhr ist die Iran-Show zu Ende. Ist dann gleich alles vergessen? Ich wünsche mir darum, ehrlich gesagt, lieber gar nichts. Mit Wünschen kommt meistens Ernüchterung, und Ernüchterung raubt Energie. Vielleicht ist erst mal wichtig, was im Vorfeld passiert ist. Dass alle großen Häuser sofort mit dabei waren.
Wenn es keinen Wunsch gibt, und sei es aus Selbstschutz, was ist Ihre vorherrschende Motivation für die Veranstaltung?
Abdollahi: Wir müssen die Sichtbarkeit des Protests aufrechterhalten.
Rahmanian: Mein Wunsch an den Schauspielhaus-Abend wäre: viele Deutsche damit zu erreichen. Die Iraner hier wissen Bescheid. Da gibt es zum Beispiel die Petition der Deutsch-Iranerin Daniela Sepehri, die die Revolutionsgarde auf die EU-Terrorliste kriegen will. Die kann man unterschreiben. Oder Düzen Tekkal, die Gründerin der Nichtregierungsorganisation HÁWAR.help – auch sie hat eine Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet, in der es unter anderem um eine andere Iran-Politik der Bundesregierung geht. Mehr als 63.000 Leute haben das unterschrieben! Bämm! Am 12. Dezember sitzt sie damit im Bundestag. Mich fragen Leute oft: Was kann ich denn tun? Meine Antwort ist: handeln. Ab einer bestimmten Zahl von Unterschriften bekommt etwas eine Relevanz. Das ist unsere demokratische Freiheit!
Abdollahi: Wir sind in einer Phase, in der die Leute im Iran müde werden. Im Winter gehen die Leute nicht mehr so viel raus. Auch die solidarischen Leute in Deutschland werden müde. Auch, weil es anstrengend ist, immer alles zu verifizieren, was an Infos rüberkommt aus dem Iran. Geprüft wird übrigens nicht immer akkurat. Teile des CDU-Präsidiums haben sich jetzt gerade mit den Volksmudschahedin getroffen, obwohl ich denen ungefähr eine Million Mal gesagt habe, dass das eine Terrororganisation ist. Ich habe dann Norbert Röttgen angeschrieben, der halb entschuldigend sagte, man habe sich das wohl nicht so genau angeschaut. Im Iran sitzen die Profis von der Islamischen Republik und schauen sich an, wie lange halten die Protestierenden, halten auch die Aktivisten im Westen durch. Solche Veranstaltungen wie in Hamburg sind jetzt wichtig, um allen zu zeigen: Der Protest verteilt sich auf immer mehr Schultern. Die Bewegung wird immer größer.
Erwarten Sie mehr vom Westen, als sich in Zukunft nicht mit den falschen Leuten zu treffen?
Abdollahi: Viel mehr. Der Iran hört ganz besonders auf das, was aus Deutschland kommt. Da gibt es seit eh und je gerade in der Wirtschaft gute Beziehungen. Wenn die deutsche Außenministerin etwas ansatzweise Kritisches twittert, reagiert der Iran fünf Minuten später pikiert darauf. Dieser Macht muss man sich in Deutschland bewusst sein. Dass der UN-Menschenrechtsrat jetzt eine Resolution verabschiedet hat, um die Gewalt der iranischen Führung gegen die Protestierenden untersuchen zu lassen, ist schön und gut, das hätte man aber auch schon Jahre früher machen können.
Ist Ihr Eindruck, dass in Berlin alle um ihre eigene Macht wissen?
Abdollahi: Ja. Aber wenn Ministerinnen und Ministern von ihren Beratern eingeflüstert wird, dass die Protestbewegung eh keinen Erfolg haben wird, möchte man sich aus deutscher Sicht nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und damit den schönen Atomdeal, die Wirtschaftsbeziehungen und die Möglichkeit, vielleicht irgendwann Erdgas aus dem Iran zu bekommen, kaputt machen. Die deutsche Politik ist zu vorsichtig gewesen. Wandel durch Handel hat im Iran nicht funktioniert. Was jetzt neu ist und zu Helmut Kohls Zeiten anders war: Wenn die Öffentlichkeit Druck ausübt, sieht sich der Bundeskanzler plötzlich genötigt zu reagieren.
Sprechen wir doch mal über „die Öffentlichkeit“ - und damit auch über Aufmerksamkeitsökonomie: Iran, Ukraine, Corona, Klimakatastrophe, Inflation … Es sind ziemlich viele große Krisen gerade da draußen, und man kann eine Gegenbewegung beobachten: Immer mehr Menschen entziehen sich. Es wird ihnen zu viel. Wie gehen Sie damit um?
Abdollahi: Bei jungen Leuten passiert das nicht. Leute unter 30 können mit mehreren zeitgleich offenen Themen gut umgehen. Die sind die treibenden Kräfte. Der Luxus der 1980er-Jahre, in dem man vor allem den Kalten Krieg hatte und das war’s, den haben wir nicht mehr. Wir haben es versäumt, sehr viele Probleme zu lösen. Die jungen Leute nehmen sich jetzt notgedrungen die Zeit. Sie haben den Klimawandel auf die Agenda geschrieben, das wäre sonst nie Thema im Bundestagswahlkampf gewesen. Und es geht heute schnell: Das Re-Posten eines Beitrags auf Instagram dauert exakt eine Sekunde.
Das ist schon „Engagement“?
Rahmanian: Definitiv!
Abdollahi: Dadurch ist die Bewegung im Iran erst entstanden. Engagement ist nicht nur Plakate-Basteln oder Spenden.
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Rahmanian: Social Media ist so enorm wichtig. Als die Proteste im Iran begannen und schon tagelang angedauert haben, kam dazu hier in den Fernsehnachrichten immer noch: nahezu nichts. Gepostet aber wurde viel, und irgendwann ist es dann angekommen. Ein anderes Beispiel: Die Hymne dieser Revolution ist das Lied „Baraye“ des iranischen Musikers Shervin Hajipour, der zeitnah zum Protestbeginn inhaftiert wurde. Nach wenigen Tagen wurde er freigelassen – warum? Weil er unter anderem mit zig Millionen Klicks weltweite Aufmerksamkeit hatte! Den hängst du nicht einfach auf. Zu posten und zu liken, zu potenzieren ist ein Geschenk unserer Zeit.
Wie groß ist Ihre Hoffnung auf eine nachhaltige Veränderung?
Rahmanian: Es gibt kein Zurück.
Abdollahi: Handeln ohne Hoffnung ist stärker als Handeln mit Hoffnung. Ohne Hoffnung muss man sich mehr Gedanken machen. Das System im Iran wird irgendwann zu Ende gehen, die Frage ist: Wann? Und was kostet es? Wir brauchen keine Hoffnung, sondern das Engagement derer, die Gewicht haben.