Hamburg. Der russische Pianist ist ein Weltstar – und anders als andere Weltstars äußert er sich sehr deutlich zu Putins Angriffskrieg.

Sein linker Arm ist wieder so gut wie okay. Ausläufer einer Sehnenscheidenentzündung, Berufsrisiko – also wird Evgeny Kissin an diesem Wochenende in der Elbphilharmonie nicht wie ursprünglich geplant das 3. Rachmaninow-Klavierkonzert mit den Philharmonikern spielen, sondern ein handlicheres von Mozart.

Doch diese Probleme sind es nicht, die einen der besten und berühmtesten Pianisten der Welt seit dem 24. Februar noch heftiger umtreiben als ohnehin. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat öffentlich einen anderen Menschen aus dem früher so scheuen, verschlossenen Kissin gemacht, der 1971 in Moskau zur Welt kam, Jude ist und das Land, in dem er geboren wurde, 1991 verlassen hat.

Hamburger Abendblatt: Die vergangenen Jahrzehnte haben Sie vor allem mit Klavierspielen verbracht und sich nie gern öffentlich geäußert. Jetzt ist das ganz anders. Wie hart war dieser Umschwung für Sie?

Evgeny Kissin: Das war nicht schwer. Ungleich schlimmer ist, was täglich in der Ukraine passiert. Jeden Tag werden dort Dutzende getötet.

Würden Sie Ihr Heimatland jetzt noch wiedererkennen – oder wäre das für Sie wie ein fremdes Land, das Sie nicht mehr verstehen?

Kissin: Im Gegenteil! Russland ähnelt mehr und mehr der Sowjetunion, in der ich aufwuchs. Der einzige Unterschied: Noch können Menschen das Land verlassen, doch auch das wird immer schwieriger.

Zur Person

Evgeny Kissin wurde am 10. Oktober 1971 in Moskau geboren, neben der russischen besitzt er inzwischen auch die britische und die israelische Staatsbürgerschaft.

Mit dem Klavierspiel begann er bereits im Alter von zwei Jahren, mit elf Jahren gab er sein erstes Solokonzert und galt fortan als „Wunderkind“. Den internationalen Durchbruch hatte Kissin, als er 1988 beim Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker (unter der Leitung von Herbert von Karajan) auftrat.  Seit 2017 ist er mit seiner Jugendfreundin Karina Arzumanova verheiratet.

„Wölfe umzubringen ist richtig, Menschen zu töten ist verkehrt.“ Ein Solschenyzin-Zitat, das Sie im April verwendeten, um Ihre Haltung zum Überfall Russlands auf die Ukraine ein weiteres Mal klarzumachen.

Kissin: Solschenyzin und andere Gulag-Gefangene träumten damals davon, dass die USA eine Atombombe auf Moskau abwerfen würden, um den Rest des Landes vom totalitären Regime zu befreien.

Im Februar haben Sie mit Hunderten anderen Künstlern einen offenen Brief unterschrieben und gegen Putins Krieg protestiert. Bis dahin machten Sie auf mich den Eindruck, vor allem Musiker um der Musik willen sein zu wollen.

Kissin: Schon seit meiner früher Jugend habe ich mich sehr für Geschichte und Politik interessiert! Die Gorbatschow-Ära, das waren meine Teenager-Jahre, in denen sich eine Persönlichkeit bildet. Allerdings: Es gab viele Jahre keine politischen Äußerungen von mir, ich hielt das nicht für notwendig und glaubte, dass Künstler damit sehr vorsichtig umgehen sollten. Viele Künstlerinnen und Künstler haben sich im 20. Jahrhundert für die falsche Seite entschieden, unterstützten entweder die Nazis oder den Kommunismus. Doch dann kam der Punkt, an dem ich nicht länger schweigen konnte und über Dinge sprach, die ich gut kenne.

Es war in den vergangenen Monaten sicher nicht einfach, sich trotz alledem, was in der Welt geschieht, auf das Klavierspiel zu konzentrieren ...

Kissin: Nein, so ging es mir nie. Vielleicht, weil das schon immer ein so zentraler Teil meines Lebens war und ist. Aber ich habe auch versucht, etwas durch meine Musik beizutragen. Kürzlich habe ich ein Klaviertrio komponiert, über den Krieg in der Ukraine, vor einigen Tagen wurde ich in Weimar mit einer Ehrendoktorwürde ausgezeichnet, während der Zeremonie haben wir es dort gespielt. Die Einleitung beschreibt das finstere Russland und die Vorahnung des Kriegs. Danach werden die
russische Invasion und die Bombardements beschrieben und das Leiden der Ukrainer. Es gibt auch jüdische Elemente. Im zweiten Satz geht es um die ukrainische Tragödie, darin zitiere ich zwei Volkslieder, eines davon ist „Ich gehe an ein Grab“; das Finale, in dem kurz vor dem Schluss auch deren Hymne auftaucht, thematisiert den Sieg der Ukraine, der unbedingt kommen muss. Denn wenn die Ukraine verliert, verliert die gesamte Menschheit.

Hat sich für Sie Ihr Klavierspiel in den vergangenen Monaten verändert, weil Sie sich verändert haben?

Kissin: Das weiß ich nicht, das können andere beurteilen.

Was müsste passieren, damit Sie wieder nach Russland reisen und womöglich dort auch wieder auftreten?

Kissin: Ein Regimewechsel natürlich!

Wann haben Sie zum letzten Mal dort gespielt?

Kissin: Ende Februar 2020, in Moskau, kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Von Heimat würde ich nicht mehr sprechen – ich war in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Das Konzert fand im Puschkin-Museum statt, am Tag danach bin ich mit meiner Frau durch das Zentrum gegangen, und später habe ich gedacht, dass das womöglich unser Abschiedsspaziergang gewesen war ... Putin ist 70, ich bin 51, meine Frau ist noch jünger – wir werden ihn also hoffentlich überleben.

Sie sind Jude, haben Antisemitismus erlebt – und dann behauptet Putin, er müsse ganz dringend die Ukraine vom Joch einer Nazi-Regierung befreien, einer Regierung also, an deren Spitze ein Jude steht. Wie irre ist das?

Kissin: Russlands Propaganda behauptet das seit Jahren. Es gibt keine Grenzen für Wahnsinn und auch nicht für das, was wir im Jiddischen „Chuzpe“ nennen.

Wie erging es Ihnen damals?

Kissin: Ich bin im fremdenfeindlichen, antisemitischen Russland aufgewachsen, bin also Teil jener besonders verhassten und diskriminierten Minderheit, die immer das größte Opfer von russischer Fremdenfeindlichkeit und Imperialismus war – auch daher kommt meine Solidarität mit allen anderen Opfern, jetzt mit den Ukrainerinnen und Ukrainern.

Sie sind jetzt nicht mehr nur der Pianist Kissin, sondern auch der politische Aktivist. In einem Porträt wurden Sie neulich als „der jüdische Krieger Kissin“ bezeichnet. Fühlen Sie sich jetzt als komplettere Persönlichkeit?

Kissin: So sehe ich das nicht. Ich tue das wegen der Dinge, die in der Ukraine passieren. Dazu kann ich nicht schweigen, auch hier nicht. Insbesondere, weil Deutschland sich so sehr von russischem Gas abhängig gemacht hat und weil Putin hofft, dass Europas Völker wegen eines kalten Winters von ihren Politikern fordern, die Unterstützung für die Ukraine einzustellen. Ich will nicht nur an Politiker appellieren, sondern auch an die einfachen Menschen: Tut das nicht! Hätte sich der Westen vor diesem Angriff anders verhalten, würde es diesen Krieg nicht geben.

Jetzt fantasiert Putin von einer „schmutzigen Bombe“ der Ukraine. Klassischer Stalin-Move.

Kissin: Das ist hoffentlich für alle im Westen als Lüge erkennbar. Putin ist ein KGB-Mann, das sind alles Profi-Lügner.

Ist es okay und genug, wenn ein Künstler in dieser Gegenwart sagt: „Ich will Künstler sein, sonst nichts.“?

Kissin: Und nicht mal Geld schickt, um der Ukraine zu helfen?! Na gut, wenn jemand nicht öffentlich über Politik sprechen möchte, meinetwegen. Sokolov beispielsweise gab Konzerte für das Ukrainische Rote Kreuz und spielte Stücke von ukrainischen Komponisten. Um einfach gar nichts zu tun, dafür müsste man schon ein sehr schlechter Mensch sein. Das ist keine künstlerische Frage, das ist eine menschliche
Frage.

Waren Sie für lange Zeit naiv, in Bezug auf das Leben, die Politik, die Kunst?

Kissin: Eher war der Westen naiv, und einige Leute sind es vielleicht immer noch. Von dieser Naivität möchte ich sie befreien. Ich wuchs im „evil empire“ auf. Ich bin Jude. Auf gar keinen Fall kann ich naiv sein.

Ein weiteres Zitat von Ihnen: „Wenn man nicht alles tut, um der Ukraine zu helfen, wird einem die Geschichte“ ...

Kissin: ... niemals vergeben. Das sage ich den westlichen Politikern.

Und: Hat schon jemand geantwortet?

Kissin: Ende März fand im Schloss Bellevue ein Konzert für die Ukraine statt. Bundespräsident Steinmeier hatte Covid und konnte nicht dabei sein. Nach dem Konzert wollte er aber mit mir telefonieren. Ich bettelte ihn an, so viele Waffen wie nur möglich – oder auch unmöglich – in die Ukraine zu schicken. Er sagte, ja, man habe jetzt diese Entscheidung getroffen, es sei nicht einfach, aber er würde dabei unterstützt werden, mehr und mehr zu tun. Den Wählerinnen und Wählern in den Demokratien des Westens sage ich: Glaubt nicht, dass ihr sicher seid, wenn jemand wie Putin die Ukraine erobert. Vielleicht habt ihr jetzt noch einen warmen Winter, aber dann wären die Polen die nächsten. Wenn ihr Putin nachgebt, seid ihr die Nächsten.

Konzerte: 30.10., 11 Uhr/31.10., 20 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal, Werke von Fauré, Debussy und Mozart; mit Kent Nagano (Dirigent), eventuell Restkarten an der Abendkasse