Hamburg. Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester bringen Mahlers Siebte zum Sprühen. Es ist ein Fest der wahren Freude.
Da steht jemand im Saft. Glaubenskrisen und künstlerisch-existenzielle Nöte hat Gustav Mahler in seinen vorangegangenen Sinfonien in einer Weise in Töne gefasst, die Interpreten wie Hörer in ihrer Intensität bisweilen zu verschlingen drohen, gipfelnd in den Hammerschlägen der Sechsten. Und dann das.
Mahler, Direktor der Wiener Hofoper und ein international gefragter Dirigent, packt in seiner Siebten das große Besteck aus. Aus dem düster-dissonanten, rhythmisch pochenden Piano des Tuttis erhebt sich eine ungewohnte Stimme. Das Tenorhorn klagt nicht etwa resigniert, es wirkt eher ungehalten, drängt vorwärts, und Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester nehmen diese Energie auf und entfalten den ganzen langen ersten Satz zu einem wahren Bilderbogen.
Elbphilharmonie: Alles hat seinen Platz
Das ganze Leben scheint Platz darin zu haben, Mahlers Marschrhythmen und seine Naturschilderungen, religiöse Gesten wie der angedeutete Streicherchoral und Reminiszenzen an frühere Sinfonien. Auch dieser Satz stürzt zwischendurch in die Tiefe, aber eben nicht ins Bodenlose. Wie Mahler Dur und Moll gegeneinandersetzt, wie er in der Schärfe der Klangfarben und Dissonanzen geradezu das Messer wetzt, das lässt an die sarkastisch-uneigentliche Tonsprache denken, für die Dmitri Schostakowitsch berühmt ist. Nur dass Mahler zuerst da war.
Gilbert und das glänzend aufgelegte Orchester blicken an diesem Abend in der Elbphilharmonie gleichsam aus Vogelperspektive auf Mahlers Schaffen und sein Selbstverständnis. Alles hat seinen Platz, alles pulsiert. Simple Heiterkeit ist mit diesem Komponisten nicht zu haben. Auch in den Mittelsätzen, dem Scherzo und den beiden charmanten „Nachtmusiken“, die es umrahmen, lauern im Hintergrund die Trompeten mit ihren gedämpften Kriegsmotiven, peitschen die Saiten der Kontrabässe beim Pizzicato, als wäre es Musik von Bartók, und klappern die Knochen, wenn die Bogenstangen mit dem Holz auf die Saiten fallen.
Elbphilharmonie: Saal bricht in Jubel aus
Dazwischen aber sind es südlich-milde Sommernächte. Die Holzbläser lassen die Vögel zwitschern, die Hornistin Claudia Strenkert gestaltet ihre vielen Soli mit feinem Gespür für das Zeitmaß, und Gilbert gibt ihr den Raum für kleine Stauungen und Beschleunigungen. Manchmal belebt sie ihren Ton von innen heraus mit einem weichen Vibrato, was zum ländlichen Charakter der Musik wunderbar passt.
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Das Dur des Finales ist so schreiend grell, dass man es lieber nicht für bare Münze nimmt. Nach dem Ende mit Tschingderassabumm bricht der Saal in Jubel aus. Es ist ein Fest der Freude über diese sprühende Siebte. Und wer weiß, vielleicht schwingt auch eine Sehnsucht nach Selbstvergewisserung mit. Einen Moment lang ist es, als wäre die Welt in Ordnung.