Hamburg. Ein Gespräch mit der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian über Ängste, Fehler und Zweifel und das Glück, das sie bedeuten

„Andere sind andere Planeten, ich bin mein eigener Planet“, sagt sie über sich selbst. Sie sei eine Sopranistin „mit grenzenlosem Hunger nach Risiko“, schrieb die „New York Times“, völlig zu Recht, über Asmik Grigorian. Mit ihrer sensationellen „Salome“ wurde die Litauerin 2018 bei den Salzburger Festspielen endgültig zum Weltstar. In diesem Sommer singt sie dort wieder, alle drei Hauptrollen in Puccinis „Il trittico“. Vorher aber, am 24. Mai, ist sie mit Rachmaninow-Liedern in der Elbphilharmonie zu erleben.

Singen Sie einzig für sich und das Publikum darf nur dabei sein oder…?

Asmik Grigorian: Ja.

Für Ihre Kollegin Barbara Hannigan, die wie Sie im Doku-Film „Fuoco Sacro“ porträtiert wird, ähnelt ihre Stimme einem „etwas seltsamen Tier“. Wie würden Sie Ihre Stimme beschreiben?

Asmik Grigorian: Darüber habe ich noch nie nachgedacht… Warum sollte ich sie auch beschreiben? Sie kann alles sein: ein Messer, die Hände einer Mutter. Darauf habe ich einfach keine Antwort.

Ihre Eltern waren beide Gesangs-Profis, Sie haben zunächst Klavier und Chordirigieren studiert und einmal über Ihre Vergangenheit gesagt: „Natürlich rannte ich vor all dem davon.“ Wie bekamen Sie dennoch die Kurve?

Asmik Grigorian: Als Teenager wollte ich praktisch nichts tun außer Spaß zu haben. Dann ging ich aber auf einmal auf die Musikakademie, ohne wirklich wissen, was ich dort eigentlich wollte. Sängerin werden wollte ich nie. Schritt für Schritt kam es dazu, ich traf großartige Menschen, Regisseure und Musiker, es fing an, mir Freude zu bereiten. Eines kam zum anderen und das hielt mich in diesem Beruf.

Für die Doku, die gerade in den Kinos läuft, wurden Sie auch gefilmt, während Sie sich selbst beim Singen zuhören und kommentieren, was das mit Ihnen macht. Das fand ich ungeheuer intim, Ihnen dabei zuzusehen und kam mir fast wie ein Eindringling vor.

Asmik Grigorian: Daran erinnere ich mich nicht mehr. Das ist schon einige Jahre her, ich bin schon wieder fünf Leben weiter.

Ihr O-Ton: „Ich habe alle Fehler begangen, die möglich waren.“ Bereuen Sie das noch oder waren sie vor allem wichtig, um besser zu werden?

Asmik Grigorian: Ich nenne diese Dinge inzwischen nicht mal mehr Fehler. Was heißt das schon, wer bestimmt die Regeln? Ich bin dankbar dafür. So wurde ich, was ich jetzt bin.

Die Salzburger „Salome“-Premiere 2018 mit Ihnen als Zentrum bleibt unvergesslich. Wie bekommen Sie diese Art von vollständiger Kontrolle und gleichzeitig dieses Loslassen in so einer Rolle auf einen Nenner? Sie müssen sich vergessen – aber auch alles präsent haben, was Sie an Technik benötigen.

Asmik Grigorian: Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Wenn ich gelassen bin und es keine Panikanfälle gibt... Es war aber auch eine lange Reise. Zu Beginn meiner Karriere hatte ich meine Technik noch nicht ausreichend im Griff. Inzwischen muss ich aber nicht mehr so sehr in meine Rolle oder aus meinem Selbst heraus. Ich habe immer 100 Prozent Kontrolle über das, was ich tue. Doch meine Persönlichkeit ist auch so gewachsen, dass ich jede Rolle sein kann, in der ich mich befinde. Ich versuche also nicht mehr, sie zu spielen. Das habe ich wohl nie getan.

Was ist schlimmer bei Opern-Vorstellungen: das Publikum sehen zu können – oder es nicht sehen zu können?

Asmik Grigorian: Ich bin eher ein Operntier, deswegen ist es für mich einfacher, die Zuschauer nicht zu sehen. Konzerte sind auch toll, doch es ist ein großer Unterschied.

In etwa jedem dritten Artikel über Sie taucht, eher früher als später, das Wort „Selbstzweifel“ auf. Wie gehen Sie damit um, dass Sie auf der Bühne immer wieder auch mit Ihren Ängsten konfrontiert werden? Dass so viele wissen, dass Sie nicht schnell mit sich zufrieden sind? Alle merken: Sie singt um ihr Leben. Sie gehen auf die Bühne und verbrennen keine Kalorien, Sie verbrennen Ihre Seele.

Asmik Grigorian: Ich verbrenne beides. Das ist aber auch das Schönste in meinem Beruf, deswegen bin ich auf der Bühne: um zu brennen. Das ist mein Leben. Ich brenne, so sehr es nur geht. Ich lebe mein Leben, ich verbrenne mein Leben. Wenn dieses Beispiel den Menschen etwas gibt, macht mich das sehr glücklich. Das ist der Sinn meines Tuns.

Wie erhalten Sie diese verlorene Energie nach einem Auftritt wieder zurück?

Asmik Grigorian: Keine Ahnung. Diese Energie endet nie. Ich versuche aber auch nie, sie zurückzuhalten. Sobald ich damit beginne, Energie zurückzuhalten, verbrenne ich mich selbst. Ich muss sie immer ziehen lassen, dann kommt sie.

Der ganz große, weithin sichtbare Teil Ihrer Karriere begann, als sie 37 waren. Hat es Sie geärgert, dass Sie erst dann dieses Ausmaß der Anerkennung erreichten, weil Sie schon lange vorher von sich wussten, wie gut Sie sind?

Asmik Grigorian: Nein, ich bin sehr froh. Es war eine lange Reise. Meine „Salome“ war, wie sie war, genau wegen der Erfahrungen aus 16 Jahren meines Lebens auf der Bühne. Und gleichzeitig glaube ich nicht, dass ich diesem Erfolg vor zehn Jahren verkraftet hätte. Erfolg ist eine wirklich gefährliche Angelegenheit, in die man hineinwachsen und für die man stark sein muss.

Wie gehen Sie damit um, wenn Sie in sich in einer Opernproduktion wiederfinden, bei der schnell klar wird, dass sie über Mittelmaß nicht hinauskommt?

Asmik Grigorian: In solchen Situationen war ich praktisch noch nicht, weil ich sie immer vermieden habe. Mit wem ich arbeite, suche ich mir aus. So kann es eigentlich nie Überraschungen geben. Es ist aber auch nicht das Ende der Welt, wenn ich nicht mit jeder einzelnen Aufführung, die ich singe, Geschichte schreibe – auch wenn ich nach wie vor jedes Mal 100 Prozent gebe.

In der Film-Doku haben Sie berichtet, dass eine „Butterfly“ 2018 in Wien Ihr erstes Engagement war, bei dem Sie keine Tabletten mehr gegen Ihre Panikattacken benötigten. Das fand ich überraschend, ehrlich und auch rührend. Ist es Ihnen einfach so rausgerutscht? Und wie haben andere Sängerinnen und Sänger darauf reagiert?

Asmik Grigorian: Ja, einige haben sich für diese Offenheit bei mir bedankt. Aber ich habe das nicht absichtlich getan. Für mich war das sehr wichtig, deswegen habe ich davon berichtet. Nach wie vor kämpfe ich damit und werde das sicher für den Rest meines Lebens tun. Aber es bessert sich. Es gibt Tausende Musikerinnen und Musiker, die dieses Problem haben, und ich wünsche allen viel Glück.

Sie sind auf der Bühne komplett ehrlich zu sich, zum Publikum und zur Musik, es gibt kein Verstellen. Das ist so anstrengend, so viel Arbeit. Aber auch so mutig. Sie sind viel tapferer, weil Sie immer nur ehrlich sind. Wahrscheinlich sage ich nicht immer nur die Wahrheit – Sie, auf der Bühne, tun das. Ist das auch erschreckend?

Asmik Grigorian: Ich glaube, dass es für andere furchterregender ist als für uns Sänger. Ich bin, was ich bin, ich kann nicht anders sein. Natürlich kann ich schauspielern – aber ich verstehe nicht, warum ich das tun sollte.

Ist noch Zukunftsangst in Ihnen oder sind Sie sich inzwischen sicher, dass alles gut weitergehen und enden wird?

Asmik Grigorian: Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste, es gibt nichts, was sich ändern ließe. Heute kann ich alles besitzen – und morgen nichts. Alles, was ich heute habe, sehe ich als ein Geschenk, dafür bin ich sehr dankbar. Aber Sicherheit? Nein. Wenn man mich fragt, wie ich bete, antworte ich: Ich bete nicht, nicht in dem Sinn, dass ich um etwas bitte. Ich sage einfach: let it be. Deswegen spüre ich wohl auch keine Angst.

Gab es jemals einen Tag, an dem Sie sich in einen berechenbaren Bürojob mit festen Arbeitszeiten wünschten?

Asmik Grigorian: (lacht) Nein. Wenn mir danach wäre, würde ich das tun. Klar lese ich Bücher, aber Emails mit mehr als drei Sätzen kann ich einfach nicht lesen. Was anderen sehr kompliziert erscheint, ist für mich ganz einfach. Und umgekehrt. Aufs Postamt gehen, um irgendetwas wegzuschicken – keine Chance, ich kann das nicht. Neulich habe ich ein Auto gekauft und man hat mir in einer Mail geschrieben, dass ich irgendwelche Unterlagen schicken sollte. Hätte ich nicht jemand, um mir bei solchen Dingen zu helfen, hätte ich am Ende wohl gesagt: Vielen Dank, aber ich brauche das Auto nicht. Das wäre mir dann lieber gewesen als das Ausfüllen von drei Formularen (lacht).

In der Elbphilharmonie stellen Sie das Programm ihrer Debüt-CD vor, Rachmaninow-Lieder mit dem Pianisten Lukas Geniušas. Sie betonen immer, dass das kein Solo-Album ist, sondern ein Duo-Projekt. Also nicht, wie sonst so gern bei Sopranistinnen, eine Bunte-Teller-Platte mit schicken Opern-Arien. Warum?

Asmik Grigorian: Wie immer in meinem Leben, war auch das eine Art Flow. Als ich gefragt wurde, was ich gern aufnehmen würde, dachte ich: Rachmaninow wäre nett. Warum sollte ich ein weiteres Opern-Album einspielen?

In der „New York Times” stand, dass Franz Welser-Möst, Ihr Salzburger „Salome“-Dirigent, Sie quasi ständig auf den Knien anflehen würde, um Sie so schnell wie möglich zur „Tosca“ zu bewegen.

Asmik Grigorian: Auf den Knien war er nicht, aber: nun ja. Das wäre mit ihm sicher ein großes Vergnügen, ich wäre sehr froh. Wir haben aber noch keine konkreten Pläne.

Wie nehmen Sie andere Sänger wahr? Ehrfurchtsvoll, bewundernd, ungläubig staunend, als Riesen-Fan?

Asmik Grigorian: Natürlich gibt es tolle Sängerinnen und Sänger. Meine Arbeitsweise: Andere sind andere Planeten, ich bin mein eigener Planet.

Lesen Sie Kritiken - und glauben Sie dann, was Sie lesen?

Asmik Grigorian: Meistens lese ich sie, ja. Inzwischen vielleicht etwas weniger häufig. Eine Kritik ist eine Meinung, und ich versuche immer, mir jede Meinung anzuhören, davon kann man lernen. Einige sind sehr schmerzhaft. Ich mag Kritiken aber nicht, wenn sie nicht als Meinung, sondern als eine Form von Wahrheit geschrieben sind, von der sie keine Ahnung haben. Die tun mir manchmal weh. Ich habe so viele Stunden gearbeitet, Du kennst meine Ängste nicht, Du weißt nicht, wie ich leide, wie ich mich gefühlt habe! Dann wünsche ich mir, dass alle Kritiker ihre Arbeit genauso hundertprozentig erledigen würden, wie ich meine Arbeit erledige.

Als Sie um die 30 waren, gerieten Sie in eine große Krise, inklusive Stimm-OP und zurück auf Los. Sie mussten sich neu erfinden und neu durchdenken. War das, rückblickend betrachtet, das Beste, was Ihnen passieren konnte?

Asmik Grigorian: Für diese Situationen bin ich sehr dankbar. In einer ähnlichen bin ich auch gerade jetzt, und ich bin dankbar dafür, dass es mir die Möglichkeit gibt, Dinge neu zu lernen.

Ein weiterer O-Ton von Ihnen: „Wann immer ich auf der Bühne sterbe, fühle ich den Schmerz.“ Das ist doch schrecklich? Denn in den meisten Ihrer Rollen sterben Sie, oder Sie leiden wenigstens reichlich. Und dann haben Sie 2000 Menschen vor sich, die wissen, warten und zusehen wollen, dass das passiert. Und Sie wissen, dass die das wissen. Und gehen trotzdem raus. Schrecklich.

Asmik Grigorian: Ganz im Gegenteil: Es macht mich sehr glücklich, dass ich in meinem Beruf so viele unterschiedliche Leben leben kann. Dass ich all diese Gefühle fühlen kann. Denn ich habe keine Angst vor dem Fühlen. Nichts zu fühlen, wäre für mich viel erschreckender. Ich lerne wirklich so viel. Jedes Mal, wenn ich sterbe, sterbe ich tatsächlich. Das heißt auch: Ich muss wiedergeboren werden, ich muss etwas Neues tun. Für mich ist das ein ganz natürlicher Kreislauf.

Worin besteht für Sie der Unterschied zwischen einem smarten und einem guten Sänger?

Asmik Grigorian: Jeder gute Sänger ist auch smart. Aber ein smarter Sänger - das heißt nicht, dass er auch gut ist.

Smarte Antwort. Wo sehen Sie sich in zehn Jahren – und wo auf gar keinen Fall? Oder ist Ihnen das egal?

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Asmik Grigorian: Ich könnte raten, aber ich kann das ja noch nicht mal für morgen absehen. Ich glaube, ich würde gern weiter in dieser Branche sein. Aber etwas weniger anstrengend als jetzt, mit mehr Zeit, um das Leben zu genießen. Jemand sein, die jetzt schon Geld für später zurücklegt – das könnte ich eindeutig nicht.

Konzert: 24. Mai 19.30 Uhr. Liederabend mit Rachmaninow-Liedern und Lukas Geniušas (Klavier). Elbphilharmonie, Kl. Saal. Evtl. Restkarten. www.elbphilharmonie.de Aufnahme: Rachmaninow „Dissonance” (alpha, CD ca. 16 Euro). Film: „Fuoco sacro” (Regie: Jan Schmidt-Garre). www.barnsteiner-film.de