Hamburg. Die Ausstellung „Who’s next?“ im Museum für Kunst & Gewerbe widmet sich dem Thema Obdachlosigkeit – besonders in Hamburg ein Thema.

Im Treppenhaus des Museums für Kunst und Gewerbe hängen Schlafsäcke. 43 leere Schlafsäcke, die jene 43 Obdachlosen symbolisieren, die im Winter 2021/22 auf den Straßen Hamburgs gestorben sind. Die Installation ist ein Schlag in die Magengrube, sie ist gnadenlos direkt. Aber sie berührt einen eben auch ganz emotional – was die Ausstellung „Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ nicht automatisch macht.

Denn: Die Schau, ursprünglich entstanden am Architekturmuseum der Technischen Universität München, ist text- und statistiklastig. Obdachlosigkeit ist ein komplexes Thema, das fängt schon bei der Terminologie an: Obdachlose etwa sind Menschen, die im Wortsinne auf der Straße leben, zu unterscheiden von der viel größeren Gruppe der Wohnungslosen, die unter Umständen auf Notunterbringungen oder Ähnliches zurückgreifen können.

Ausstellung im MKG stellt Glossar bereit

Dazu wollen Begriffe wie „Gender“, „Hygiene“ oder „Privatsphäre“ in Bezug auf Obdachlosigkeit geklärt werden, im Grunde ist ein umfangreiches Glossar notwendig, um überhaupt zu verstehen, wovon hier geredet wird. Und weil die Ausstellung solch ein Glossar bereitstellt, steht man erst einmal vor einer erdrückenden Textmenge, die bewältigt werden will.

Aber angesichts der originellen Ausstellungsarchitektur bewältigt man das Glossar am Ende auch gerne: Die Artikel stehen auf stilisierten Litfaßsäulen, die so die Realität der Straße in den geschützten Raum des Museums holen. Eine kreative Lösung, die eine Ahnung davon verschafft, wie klug hier mit dem Raum gearbeitet wurde.

„Hamburg gilt als Hauptstadt der Obdachlosigkeit“

Denn der Raum ist wichtig. Durch die Fenster geht der Blick hinaus auf die Kurt-Schumacher-Allee, am August-Bebel-Park sieht man die Menschenansammlungen vor der Drogenhilfsstation Drob Inn – mit „Who’s next?“ wird kein abstraktes Thema behandelt, sondern etwas, das in direkter Nachbarschaft passiert. „Hamburg gilt als Hauptstadt der Obdachlosigkeit“, meint Museumsdirektorin Tulga Beyerle, „und das Museum für Kunst und Gewerbe ist da mittendrin. Uns begegnet dieses Thema täglich.“

Ein Obdachlosenschlafplatz im Bezirk Shinjuku im Westen Tokios.
Ein Obdachlosenschlafplatz im Bezirk Shinjuku im Westen Tokios. © Myrzik und Jarisch | Myrzik und Jarisch

Das Schlagwort von der „Hauptstadt der Obdachlosigkeit“ kann man hinterfragen – die Zahlen sind unzuverlässig, weil jede Kommune sie anders erhebt, aber mit 1021 Wohnungslosen pro 100.000 Einwohner scheint die Hansestadt in der Bundesrepublik den Spitzenplatz zu belegen, vor Stuttgart und Frankfurt. Klar wird aber, dass sich das Museum hier nicht in den Ästhetizismus flüchten kann. Und auch nicht will. „Es ist typisch für das Museum für Kunst und Gewerbe als Haus der Gestaltung, dass wir solche Fragen mit aufnehmen“, erinnert Beyerle an die 2019er-Schau „Social Design“. „Hervorragende Architektur mit sozialem Anspruch ist nicht unbedingt Luxus.“

Ausstellung auf Hamburger Verhältnisse angepasst

Was ebenfalls typisch ist für Beyerles Haus: dass man hier gerne Ausstellungen aus anderen Städten übernimmt, um sie dann geschickt auf Hamburger Verhältnisse anzupassen. Auch „Who’s next?“ ist ursprünglich in München entstanden, wird aber eröffnet mit einem riesigen Hamburg-Stadtplan, auf dem unterschiedliche Hilfsangebote für Obdachlose eingezeichnet sind. Ein Hinweis darauf, wie präsent Obdachlosigkeit in der Hansestadt ist – und wie wenig sichtbar im Stadtbild.

Die vom chilenischen, in Großbritannien lebenden Architekturhistoriker Daniel Talesnik kuratierte Schau konzentriert sich auf solche Strategien, mit Obdachlosigkeit umzugehen, mit Blick auf mehrere Städte: International nimmt er São Paulo, New York City, Mumbai, Los Angeles, San Francisco, Moskau, Tokio und Shanghai in den Fokus, dazu kommen deutsche Städte wie Berlin, Leipzig, Essen – und eben Hamburg.

„Who’s next?“ eine hoffnungsvolle Präsentation

So unterschiedlich wie die Gründe für Obdachlosigkeit sind auch die Umgangsweisen mit dem Phänomen: Mancherorts wird mit Repression gearbeitet, anderswo mit Verdrängung, in wieder anderen Städten mit Ignoranz. Und in einigen auch mit durchaus erfolgversprechender Sozialarbeit.

Das macht „Who’s next?“ zu einer hoffnungsfrohen Präsentation: zu sehen, wie Städte das Problem lösen, indem sie sich auf die eigenen Besonderheiten konzen­trieren. Da sind die New Carver Appartements in Los Angeles, Wohneinrichtungen nach dem Prinzip des „Housing First“, die einerseits die Menschen von der Straße holen, andererseits aber als von der nahen Autobahn sichtbares, architektonisch ansprechendes Bauwerk das Bewusstsein für Obdachlosigkeit wecken sollen. Oder das Wiener Projekt VinziRast, bei dem Studierende und Obdachlose zusammenleben.

Ausstellung im MKG – Hinz& Kunzt-Haus ein Partner

Ein ähnliches Housing-First-Projekt ist übrigens Kooperationspartner bei der Ausstellung: das Hamburger Hinz& Kunzt-Haus in St. Georg, in dem fünf Wohngemeinschaften für aktuell 27 Menschen existieren. Ein Tropfen auf den heißen Stein, angesichts von Tausenden Menschen, die in der Hansestadt auf der Straße leben.

„Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ bis 12. März 2023, Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–21.00, Museum für Kunst und Gewerbe (U/S Hauptbahnhof), Steintorplatz, www.mkg-hamburg.de, der Katalog kostet im Buchhandel 48 Euro, in der Ausstellung 39,90 Euro.