Hamburg. Nach 50 Jahren ist Schluss: Die Suche nach dem Erben des Hamburger Ballettchefs läuft auf Hochtouren. Möglichkeiten gäbe es einige.

Wenn sich John Neumeier nach 50 Jahren Intendanz des Hamburg Balletts am Ende der laufenden Spielzeit 22/23 aus dieser Funktion verabschiedet, um fortan die Wonnen des freien Choreografierens zu genießen, steht mehr auf dem Spiel als nur die Besetzung eines neuen Postens.

Vielmehr geht es um die entscheidende Frage, wie kann eine deutliche inhaltliche, künstlerische Zäsur gelingen, die Hamburg ein der Zukunft zugewandtes, erstklassiges Ballett-Programm ermöglicht? Und wie kann zugleich das weltweit erfolgreiche künstlerische Erbe von John Neumeiers Choreografien – es sind mehr als 170 – dauerhaft gesichert werden?

Hamburg Ballett: Ensemble ist sehr durch Neumeier geprägt

Es bräuchte also eine Persönlichkeit an der neuen Spitze, die eigenständige Kreativität bewiesen hat und einen ausgewiesenen Ballett-Hintergrund mitbringt, der im besten Fall auch neoklassisch geprägt ist.

Das ist kein einfacher Spagat. Das Hamburg Ballett, ohne Zweifel eines der besten Ballett-Ensembles weltweit, ist tief geprägt durch John Neumeiers künstlerisches Wirken – aber wie in vergleichbaren Fällen, etwa bei John Cranko, der 1973 durch seinen Tod eine Leerstelle beim renommierten Stuttgarter Ballett hinterließ, stellt sich die Frage: Wie lassen sich Weiterentwicklung und neue Kreationen von einem – oder mehreren – attraktiven zeitgenössischen Ballett-Choreografen und die internationale Weiterverbreitung der Neumeier-Kreationen verbinden?

Lloyd Riggins und Gigi Hyatt stünden für die Pflege der Tradition

Möglichkeiten gibt es mehrere. Da wäre zunächst Lloyd Riggins. Der Solo-Tänzer ist seit langem Ballettmeister und seit 2015 stellvertretender Ballett-Direktor, John Neumeier hat ihn in vielen Jahren als Nachfolger aufgebaut. Riggins hat vor einigen Jahren mit „Napoli“ eine ordentliche Choreografie gezeigt – für einen künstlerisch-ästhetischen Neuanfang steht er eher nicht. Auch Gigi Hyatt, legendäre Neumeier-Tänzerin und Leiterin der Ballettschule des Hamburg Balletts, könnte die Pflege der Tradition an der Seite eines choreografierenden Intendanten gelingen.

Aber wer könnte das sein? Schaut man sich die Ballett-Landschaft an, fällt auf, dass einige ausgewiesene Stars gerade in neuen Arbeitsverhältnissen stehen: Christian Spuck übernimmt das gebeutelte Berliner Staatsballett, Laurent Hilaire hat gerade am Bayerischen Staatsballett angefangen, Martin Schläpfer ist seit einem Jahr am Wiener Staatsballett und Tamas Detrich fühlt sich seit 2018 am Stuttgarter Ballett ganz wohl.

John Neumeier: Deutsch-argentinischer Choreograf als Nachfolger?

Einer der weltweit gefragtesten Kandidaten ist Marco Goecke. Der Choreograf, bekannt für seine düster-expressiven Arbeiten, wirkte lange erfolgreich am Stuttgarter Ballett, bevor er als Direktor ans Staatsballett Hannover wechselte. Das Hamburg Ballett hat 2003 mit „Blushing“ und 2005 mit „Beautiful Freak“ zwei seiner Kreationen getanzt. Ob es ihn nach gerade einmal drei Jahren schon wieder von Hannover wegzieht, ist ungewiss.

Aus der Stuttgarter John-Cranko-Schmiede stammt auch Demis Volpi. Der deutsch-argentinische Choreograf hat zur Spielzeit 2020/21 das Ballett am Rhein mit den Spielstätten Düsseldorf und Duisburg übernommen. Er durchlief die kanadische National Ballett School in Toronto und die Stuttgarter John Cranko Schule, dessen Kompanie er bis 2013 angehörte. Unter Intendant Reid Andersen wurde er dort anschließend Hauschoreograf. Er stünde für einen – wenn auch moderaten – Neuanfang und ist in der Neoklassik zu Hause. Volpi hat in Düsseldorf Balanchines „Die vier Temperamente“ mit unter anderem einer Neumeier-Szene gezeigt und auch bereits für das Bundesjugendballett choreographiert.

Nach Neumeier beim Hamburg Ballett: Alexander Ekman wäre verfügbar

Vielleicht ist auch eine radikalere Lösung vorstellbar – zum Beispiel mit dem Briten Wayne McGregor, einem ausgewiesenen, klugen Kenner des Ballett-Kanons. Gleichzeitig denkt er das Ballett in die Zukunft, auch mit Hilfe neuer Technologien, und kann höchst athletische, zeitgenössische Abende kreieren. Seit 2006 ist er Hauschoreograf beim The Royal Ballett in London. Aber ob er die Freiheiten zeitgenössischer Tanzproduktionen gegen eine feste Leitungsfunktion mit übermächtiger Historie eintauschen würde?

International gefragt und verfügbar wäre derzeit Alexander Ekman. Der Schwede hat Erfahrungen beim Königlich Schwedischen Ballett, beim Cullberg Ballet und beim Nederlands Dans Theater 2 gesammelt, wo er 2011 bis 2013 auch Associate Choreographer war. Er versteht sich auf opulente, hypermoderne Bilder, so verlegte er zuletzt „Schwanensee“ mit dem Norwegischen Nationalballett in eine berückend erleuchtete Wasserwelt.

Hamburg Ballett: Neue Impulse aus England?

Ein vergleichbares Kaliber wäre der Brite David Dawson. Auch er gilt als mit Preisen hochdekorierter Erneuerer des Balletts, sein Markenzeichen ist ein eher purer, technisch höchst anspruchsvoller Stil mit eher minimalistischen Bühnenbildern. Seit 2015 ist er Associate Artist des Dutch National Ballet und seit 2020 am Semperoper Ballett. Compagnien in aller Welt tanzen seine Kreationen.

Derzeit hätte wohl auch Paul Lightfoot Zeit. Er ist ebenfalls Absolvent der Royal Ballet School in London. Gemeinsam mit Sol Léon bildet er seit langem ein international äußerst fruchtbares Choreografie-Duo, das auf mehr als 60 Choroegrafien zurückblicken kann.

Nach John Neumeier: Denkbare Ballett-Direktorinnen gibt es nicht viele

Und die Frauen? Denkbare Ballett-Direktorinnen gibt es nicht viele – aber es gibt sie. Emily Molnar hat seit 2020 die Leitung des herausragenden Nederlands Dans Theater inne. Sie war Solo-Tänzerin am National Ballet of Canada, am Frankfurt Ballett und erste Solistin am Ballet BC. Ihr sehr zeitgenössischer Stil ist beeinflusst durch den US-amerikanischer Tänzer und Choreografen William Forsythe, zugleich tief verankert im klassischen Kanon. Auch sie denkt das Ballett in die Zukunft.

Die kanadische Ballett-Tänzerin und Choreografin Chrystal Pite wiederum hat sich ohne Besuch einer Ballett-Schule emporgearbeitet. Sie inszeniert an allen renommierten Häusern, darunter als Associate Choreographer seit 2008 am Nederlands Dans Theater und hat mit Robert Lepage und Simon McBurney kollaboriert.

Es gibt also mehrere, durchaus hoffnungsvolle Szenarien, wie das Hamburg Ballett in die Zukunft geführt werden könnte – auch eingedenk des zu bewahrenden Neumeier-Schatzes. Die Kulturbehörde hat eine Findungskommission eingesetzt, über deren Zusammensetzung sie sich beharrlich ausschweigt, die sich jedoch derzeit diese – und womöglich noch ganz andere – Gedanken macht. Während Neumeier selbst für seine letzte Saison gefeiert wird und schon Pläne für die Zukunft macht.