Hamburg. Zur Saisoneröffnung beschäftigt sich Dada Masilo mit der europäischen Balletttradition, nebenan tanzen urbane Kreaturen.
Vier Jahrzehnte Kampnagel – wenn das kein Grund zum Feiern ist. Und so ist Kultursenator Carsten Brosda anlässlich des Jubiläums dieser besonderen Produktionsstätte, die schon lange keine Kulturfabrik, sondern seit zwei Jahren sogar ein Staatstheater ist, voll des Lobes. Kampnagel sei seit seinen Anfängen ein Ort geprägt vom „selbstbewussten Widerstand“ und „unbedingten Willen zum künstlerischen Experiment“.
Um den besonderen Geist von Kampnagel zu beschreiben, zitierte Brosda „Yoda“ aus Star Wars: „Do. Or do not. There is no try“. Kampnagel gehe es immer um das Machen und Ausprobieren. Besser einmal zu viel scheitern, als es gar nicht erst zu versuchen. „Hamburg braucht diese lebendigen Orte für die Stadtgesellschaft.“ Kampnagel sei zudem nicht blind gegenüber der eigenen Historie, sagt Brosda auf die Waffenproduktion in Kriegszeiten anspielend. Fazit des Kultursenators: „Kampnagel ist aus Hamburg nicht mehr wegzudenken.“
Kampnagel: Widerstand und ein Experiment
Der Wille zum Experiment, angedockt an den Ballett-Kanon, zeichnet dann auch – schon einen Tag vor dem offiziellen Senatsempfang – die große Tanzproduktion zur Saisoneröffnung aus: Dada Masilos „The Sacrifice“. „Le Sacre Du Printemps“, also: „Das Frühlingsopfer“. Klassiker der Ballettgeschichte findet man auf Kampnagel eher selten, auch nicht, wenn sie so ikonisch sind wie das 1913 in Nijinskys Choreografie uraufgeführte und spätestens 1975 von Pina Bausch in eine von struktureller Gewalt geprägte Gegenwart geholte Stück. Dada Masilo ist eine auf die Überschreibung des europäischen Ballettkanons mit afrikanischen Tanztraditionen spezialisierte Choreografin. Und wenn sie sich des Stoffes annimmt, dann passt das schon. Denn Masilo braucht den Kanon, um eine ganz eigene Tanzsprache zu zeigen, ihr Verständnis von zeitgenössischem Tanz lebt vom Rückgriff auf alte Stücke.
Der Einstieg zu „The Sacrifice“ erinnert entsprechend noch an die Vorläufer: Die Bühne ist nackt, einzig ein paar Spiegelungen zeichnen sich auf dem Tanzboden ab, ein Musikertrio erzeugt meditative Klänge, die entfernt an die Bläserharmonien von Igor Strawinskys ursprünglicher Musik erinnern. Und Masilo tanzt alleine, sparsam, ruckartig, impulsive Bewegungen aus dem Oberkörper heraus.
- Kampnagel feiert 40. Geburtstag: So wild fing alles an
- Kampnagel in Feierlaune: Was zum 40. Geburtstag geplant ist
- Krimifestival mit buntem Programm: Vorverkauf gestartet
Die Südafrikanerin ist barfuß, barhäuptig, barbusig, das wäre unter Nijinsky schwer vorstellbar gewesen, aber tatsächlich erkennt man hier, wie ernst Masilo die Vorlage nimmt: als sanftes Herantasten an ein Stück, das inhaltlich nicht unproblematisch ist, das in der Urfassung eine aufopferungsbereite Weiblichkeit feierte und, spätestens seit Bausch den brutalen Charakter der Geschlechterverhältnisse thematisierte, immer die Frau als Opfer darstellte.
Kampnagel: Publikum wird einbezogen
Hier ist es anders: Spätestens in den Gruppenszenen zeigt Masilo weniger den repressiven Charakter als das Verbindende und die Solidarität, die im Kollektiv liegen. Über weite Strecken wird gemeinsam geklatscht, rituell gesprochen, das Ballett löst sich im vom botswanischen Tswana-Tanz beeinflussten Rausch auf und führt von dort zurück in die Klassik. Bevor das allerdings überhandnimmt, bevor man anfängt im Klatschen und Stampfen Afrika-Klischees zu sehen, bricht die Choreografie ab, flüchtet sich in Humor und intellektuelle Analyse.
Masilo, geboren in Johannesburg, ausgebildet in Kapstadt und bei P.A.R.T.S. in Brüssel, ist eine Wanderin zwischen den Welten. Ihre Kunst nährt sich einerseits vom vielfältigen Tanz-Erbe ihrer Heimat, weiß aber auch um die Tradition des europäischen Balletts und kennt sich darüber hinaus aus mit postmodernem Tanz belgischer Prägung. Das macht „The Sacrifice“ gleichzeitig vielschichtig, sperrig und anschlussfähig. Dass die von Masilo getanzte Frauenfigur am Ende geopfert wird, wie schon bei Nijinsky und Bausch, ist da fast eine Enttäuschung: Der Abend war so unkonventionell und unvorhersehbar, man hätte sich auch eine andere Lösung für die Frau vorstellen können als den Tod.
Für kluges Nachdenken über Tanz als eine im besten Fall lustvolle, sinnliche Forschungsreise steht seit einigen Jahren auch der Choreograf Sebastian Matthias. In seiner neuen Produktion „Urban Creatures“, die in einem kleineren Saal den Abend eröffnet, bezieht die Choreografie das Publikum mit ein. Es blickt auf die Performenden im Saal und bedient zugleich eine eigens initiierte App auf dem Smartphone. Über eine durch das Schreiten durch den Raum und die Nähe oder Distanz zu den Performenden erzeugte Tonspur werden die Besucher und Besucherinnen Teil der Aufführung.
Ein berückendes Experiment
Die sieben Tanzenden sind im Saal verteilt, die App verrät den inhaltlichen Schwerpunkt der Begegnung, bei der es immer um Angst geht: Zum Beispiel davor, nicht sichtbar zu sein. An einer dieser Stationen tritt eine Tänzerin dicht an einen heran und blickt vermeintlich durch ihr Gegenüber hindurch. Die Tanzenden singen, nehmen Kontakt zueinander auf, bewegen sich in immer ausladenderen Bewegungen durch das Publikum, wechseln ihre fantasievollen Kostüme, bis alles in eine Art berauschenden Techno-Rave mündet.
Ein berückendes Experiment, wenngleich es einem auch ein wenig mulmig wird, auch ob der Macht der digitalen Medien, die sich hier wieder offenbart.
In diesem Sinne kann es weitergehen – mit weiteren 40 Jahren Widerstand und Experiment.
40 Jahre State of The Arts – Das Jubiläum, bis 15.10., Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Infos und Programm unter www.kampnagel.de