Hamburg. Die starke Bestsellerverfilmung „Mittagsstunde“ erzählt von Hoffnungen, die sich nie erfüllt haben. Über das verwirrende Kuddelmuddel.

„Mudda, det is aber ooch ’n Kuddelmuddel mit uns!“ Besser könnte man die verwirrende Situation nicht auf den Punkt bringen, obendrein im trockensten Plattdüütsch. Die Worte fallen auf dem Friedhof. Hier hat Ingwer Feddersen (Charly Hübner) seine demente Mutter Ella (Hildegard Schmahl) aufgespürt, die wieder mal ausgebüxt ist.

Dass die Mutter in Wahrheit seine Großmutter ist und seine Schwester seine Mutter war, das wusste er schon. Aber erst jetzt, da Ella vor dem Grab seines einstigen Lehrers sitzt, geht ihm auf, warum dieser ihn als Schüler immer so gefördert hat. Ella hatte einst eine Affäre mit ihm. Und Sönke Feddersen (Peter Franke), der Mann, den Ingwer seinen Vater nennt und seinen Großvater wähnt, ist weder das eine noch das andere.

Dörte Hansen: Wir sind nie ganz selbstbestimmt

Denn darum geht es, wie stets bei Dörte Hansen: Dass wir nie ganz selbstbestimmt sind, sondern immer einen Pack an Vergangenem, Verdrängtem mit uns herumschleppen. Bis man‘s dann doch aufarbeitet. Dabei geht es immer auch um das Spannungsfeld zwischen ferner Großstadt und Heimat auf dem platten Lande. So war es in ihrem Romandebüt „Altes Land“ – der ebenfalls schon, als Fernsehzweiteiler mit Iris Berben, verfilmtwurde. Und so ist es mit ihrem zweiten Bestseller „Mittagsstunde“, der am Thalia Theater bereits auf die Bühne zu sehen ist und dessen Verfilmung nun ins Kino kommt.

Das Kuddelmuddel ist angesiedelt im fiktiven nordfriesischen Straßendorf Brinkebüll. Und wiewohl da erst mal ein Familiendrama abrollt, wird ganz nebenbei auch ganz viel über die Wirren und Wandlungen der Zeiten erzählt. Das fängt schon damit an, dass dem jungen Sönke (in den Rückblenden gespielt von Rainer Bock) schwant, dass Marett nicht seine Tochter sein kann, dass sie, so sein Ausdruck, ein „Kuckucksei“ ist.

Sönke hat ein zweites Kuckucksei

Aber der Wirt der örtlichen Kneipe zieht sie als seine Tochter groß, und wer Anspielungen darüber macht, fliegt aus dem Lokal. Eines Tages sitzen da auch Landvermesser aus der Stadt, für die Flurbereinigung. Sie hinterlassen eine riesige Brache in der Landschaft, und bei Marett (Gro Swantje Kohlhof) einen dicken Bauch. Und Sönke hat ein zweites Kuckucksei: Ingwer.

Dessen Leben verläuft auch anders als das, was die Bewohner des Dorfs wohl „normal“ nennen. Er steckt als Mittvierziger im fernen Kiel in einer Dreiecksbeziehung und teilt sein Bett mit einer Frau und einem Mann. Aber da der Vater zu gebrechlich und die Mutter dement ist, nimmt er sich ein Jahr Auszeit und kehrt ins Dorf zurück. Um die Alten zu pflegen.

Der Hochzeitstag wird gefeiert – aber die Ehe war eine Farce

Sönke will auf jeden Fall noch den 70. Hochzeitstag feiern. Groß, mit dem ganzen Dorf. Obwohl die meisten längst tot oder weggezogen sind. Und seine Ehe doch eine Farce war. Und auch wenn Ella gern ausbüxt und sich kaum noch an etwas erinnern kann, diesen Tag, hofft ihr Gatte, soll sie noch erleben. Er klammert sich an das bisschen, was sie noch gemeinsam haben.

Wie in „Altes Land“ läuft auch „Mittagsstunde“ auf zwei Handlungsebenen, wobei die Schauspieler hier nicht auf alt geschminkt werden, sondern in der Gegenwart von anderen Schauspielern dargestellt werden. Das ist gut, denn auf alt getrimmt wirkt oft künstlich und falsch. Aber es erfordert natürlich höchste Aufmerksamkeit beim Zuschauer. Wo die Verhältnisse doch so schon kompliziert genug sind. Dass das „Kuddelmuddel“ der Handlung dann doch kein Kuddelmuddel im Film geworden ist, ist das große Verdienst von Regisseur Lars Jessen.

Jessen ist die Welt von Dörte Hansen vertraut

Der gebürtige Kieler hat mit seinem Kinodebüt „Der Tag als Bobby Ewing starb“ (2005) seine eigene Jugend auf dem Lande verarbeitet und in „Dorfpunks“ (2009) die seines Freundes Rocko Schamoni. Nun taucht er ein in die Welt von Dörte Hansen, die ihm durchaus vertraut ist.

Hat Jessen doch auch mit Filmen wie „Butter bei die Fische“ oder „Vater Kutter Sohn“ von knurrigen Eigenbrötlern im nördlich-platten Raum erzählt. Und dabei immer auch die Kluft zwischen Stadt und Land ausgelotet. Für „Mittagsstunde“ hat er wieder viele Schauspieler um sich geschart, mit denen er schon gearbeitet hat, allen voran Jan Georg Schütte und sein Dauer-Star Charly Hübner.

Dörte Hansen: Der Film erzählt viel über unser Land

Von alledem lebt der Film. Weil das Team aufeinander eingespielt ist und den selben Nerv trifft. Weil sie das Kuddelmuddel nicht entwirren, aber als solches verdeutlichen. Und dabei bleibt der Blick der Kamera doch tief und genau genug für scheinbar Nebensächliches, das so viel miterzählt. Die üppige Landschaft, die der Flurbereinigung geopfert wird. Der Baum in der Dorfmitte, der für die neue breite Straße gefällt wird.

Da wird ganz viel über unser Land, die Provinz und gesellschaftliche Realitäten erzählt, vom ersehnten Aufschwung, der dann doch nicht kommt und erst recht zur Landflucht führt. Und wer weiß, vielleicht ist es manchmal ja wirklich besser, wenn man sich, wie die alte Ella, nicht mehr an alles erinnern kann. Oder, wie die junge Marett, nie alles ganz verstehen konnte. „Mittagsstunde“, ein starker Film über Wunden, die nie verheilt sind, Hoffnungen, die sich nie erfüllt haben, und das Glücksspiel Schicksal, bei dem nichts so wird, wie man es erwartet.

„Mittagsstunde“ 97 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Abaton, in der Astor FilmLounge, im Elbe, Holi, Koralle, Studio, UCI Mundsburg + Othmarschen, Zeise